Onlinespenden in China – Ethische Pflicht versus gesundes Misstrauen

Onlinespenden in China – Ethische Pflicht versus gesundes Misstrauen

Das "China Jiangxi Radio and Television Network" fragt, was man nach dem Luo Yixiao-Fall von Online-Spenden halten soll. Screenshot: https://www.youtube.com/watch?v=0h5TuzYCM9g, 21.12.2016

Ein kleines Mädchen ist in Lebensgefahr, ihre Familie hat nach einem Spendenaufruf über das Internet eine Spende von 2 Millionen Yuan für ihre Heilung bekommen. Die Diskussionen chinesischer Netzbenutzer zeigen, dass das Verschenken von Geld an Unbekannte grundlegende ethische Fragen aufwirft.

 

Luo Yixiao罗一笑, ein fünfjähriges Mädchen aus der Stadt Shenzhen, wurde im November 2016 wegen schwerer Leukämie in einer Intensivstation untergebracht. Ihr Vater Luo Er, ein bekannter heimischer Autor, veröffentlichte daraufhin in WeChat eine Reihe von Artikeln über seine erkrankte Tochter. In diesen Artikeln beschrieb er den großen finanziellen Druck, den die hohen Heilungskosten erzeugten. Seine Berichte bewegten das Publikum und in sehr kurzer Zeit erhielt er über das Internet von wohlmeindenden Mitbürgern über 2 Millionen Yuan (ca. 276.500 Euro). Wenig später wurde bekannt, dass der Spendenaufruf eine Form von Online-Marketing war, der von einer Firma initiiert wurde. Die Heilungskosten für das Mädchen sind tatsächlich nicht so hoch wie behauptet und die Luo-Familie ist für chinesische Verhältnisse durchaus wohlhabend.* Die Netzwelt reagiert wütend darauf, dass sie Opfer eines Betrugs wurde.

 

 

Die Wahrheit hinter der Wahrheit

 

Luo Er wurde einen Monat lang heftig kritisiert, obwohl er sich entschieden hatte, das unrechtmäßig erworbene Geld zurückzugeben. Momo, ein Pädagoge, fasst die Fakten zu diesem Fall wie folgt zusammen:

 

Erstens, die Gebühren eines staatlichen Krankhauses sind nicht so hoch, die Behandlung für ein Kind mit Leukämie kostet nur etwas mehr als 200.000 Yuan (ca. 27.650 Euro); zweitens kann man die Krankenversicherung in Anspruch nehmen: die gesetzliche Krankenkasse bezahlt 80% der Heilungs- und Verpflegungsgebühren, der Kranke zahlt selbst nur Kosten von 30.000 Yuan (ca. 4.150 Euro); auch ein Angehöriger der einfachen Arbeiterklasse muss daher nicht verzweifeln; drittens, viele Menschen behaupten seit Jahren, dass der Staat nicht mehr vertrauenswürdig ist, aber selbst dann wäre er noch vertrauenswürdiger als soziale Organisationen, Betriebe und Einzelpersonen.大家最终发现了几个事实,1、原来我国的公立医院收费并没有那么贵,白血病儿童三次住院总费用也就二十几万啊。2、原来医保是有用的,国家报销近80%,最终个人承担只有3万多,这个普通工薪阶层并不会绝望。3、就算这些年大家都动辄说什么政府信用破产,可是,再破产也比什么社会团体、企业、个人强.

 

Wer überwacht Onlinespenden?

 

Der Luo-Yixiao-Zwischenfall birgt aber viel Gesprächsstoff in sich. Auf der WeChat-Plattform gibt es häufig Spendensammlungen. Vom Konzept her unterstützen sie stets ein gemeinnütziges Ziel und haben de facto schon vielen Menschen geholfen. Ohne institutionalisierte Kontrollen und angesichts von Missbrauchsfällen wird das gegenwärtige System jedoch infrage gestellt. Ein anonymer Internetbenutzer teilt seine Geschichte mit:

 

Ich habe über die WeChat-Plattform gespendet. Der Empfänger ist ein in Teilzeit arbeitender Kollege von mir, der an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu Leben hat. Für ihn wurde ein Crowdfunding-Aufruf gestartet, dessen Ziel bei 200.000 Yuan (ca. 27.650 Euro) liegt. Unser Arbeitgeber hat uns in der WeChat-Gruppe darüber informiert und ihm einige Kollegen zu Besuch geschickt. Er ist uns allen bekannt und seine Krankheit ist real. Nichtsdestotrotz habe ich die Spenden-Plattform lange beobachtet. Ich habe nach einer neutralen Instanz gesucht, die die eingehenden Mittel kontrolliert, habe aber nichts gefunden. Ich kann den erkrankten Kollegen ja schlechterdings nicht fragen, wofür planst Du das Geld auszugegeben, was machst Du mit dem Geld, wenn etwas übrig bleibt? Obwohl ich rational betrachtet das Recht habe, ihm diese die Fragen zu stellen, kann ich das aus emotionalen Gründen nicht machen. Ich bin selbst finanziell in Not, monatlich kann ich nur maximal 100 Yuan spenden, entweder gebe ich das ihm oder einem anderen Menschen. Daher muss ich sehr sorgfältig auswählen, an welche gemeinnützige Organisation oder an welchen anderen Empfänger ich spende (…)在微信上的这个平台捐过。对方是见过几面的兼职的同事,因为什么癌晚期众筹20万。虽然当时是由兼职公司将此消息发到群里,事后公司也派人去探望,加之是身边的人,能确定此人患癌是事实,但我还是打开这个众筹平台仔细看了很久。我一直在找第三方的善款流向监督信息,但是没有。而我又没法去问患者“这钱你打算怎么花?如果有余款怎么处理?”,虽然这是我的权利,但是有些事于理应当,于情却是不好做的。像我这样经济拮据的人,每月只能捐几十,捐到这里那里就不能捐了,所以真的会非常认真选择公益机构和捐助对象(…)

 

Helfen oder nicht?

 

Sich in einem Notfall gegenseitig zu unterstützen ist Teil der traditionellen chinesischen Moralphilosophie. Viele Menschen haben im Verlauf ihrer Bildungs- und Berufslaufbahn Fälle erlebt, in denen sie Kollegen, Mitschülern und Kommilitonen finanziell aushalfen. Der Großteil dieser Spender hat aber keine ausreichenden Informationen über den Empfänger. Ein anonymer Student erzählt von seiner diesbezüglichen Erfahrung:

 

Heute hat unsere Universität eine Spendenveranstaltung für einen Studenten aus unserer Abteilung abgehalten, der von einem Auto angefahren wurde. Der Parteisekretär rief zu einer Spende auf, er stellte sich auf einen moralischen Standpunkt und sagte, dass der Täter betrunken fuhr, dass das Opfer aus einer armen Familie stammt; die Schadensbehebung durch die Krankenversicherung wurde abgelehnt, das Krankenhaus verzichtete nicht auf die Operationsgebühr. Jeder habe das Recht, weiter zu leben, usw. Ich weiß nicht, ob seine Worte wahr sind. Hat er uns die ganze Wahrheit mitgeteilt oder hat er nur schöne Wörter und Sätze sowie politische Korrektheit eingesetzt, um uns zum Spenden zu bringen?正好我们学校今天也组织捐钱,我们系某学生被车撞。团支书读的稿子每一个字都站在了道德的制高点,对方酒驾,被撞同学家里穷,保险公司拒不赔偿,医院不报销手术费,每个人都有活下去的权利……我也不知道他说的是真的吗,他告诉我全部的事实了吗?还是只挑选了那些好词好句政治正确的部分诱导我们去捐款

 

 

Wenn Online-Sammelaktionen viel öffentliche Aufmerksamkeit binden, dann sinkt das Maß an Sorge um diejenigen, die wirklich Hilfe benötigen. Huang Mingliang findet, dass Internetspenden oder das sogenannte Crowdfunding für wohltätige Zwecke eine andere Form des Bettelns seien, weil die Empfänger nicht selten eigentlich gar nicht schlecht leben.

 

Diejenigen, denen es wirklich schlecht geht, haben kein Internet zum Surfen, keinen Zugang zu Crowdfunding. (…) Niemand teilt ihre Geschichte im WeChat-Freundkreis, niemand eröffnet ihnen einen Ausweg durch Crowdfunding. Sie sind diejenigen, mit denen wir Mitleid haben sollten. Ein Junge aus meinem Dorf, der genauso alt wie ich ist, war in der Schule einen Jahrgang über mir. Wegen ausgezeichneter Leistung wurde er von der Volksuniversität in Peking aufgenommen. Sein Vater litt an einer schweren Krankheit, an den Heilungskosten zerbrach die ganze Familie und sie hatten deswegen mehr als 100.000 Yuan (ca. 13.820 Euro) Schulden. Er hatte keinen anderen Ausweg, er verzichtete auf das Studium und wurde Arbeitskraft auf einem Schiff. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich fühlte, als er diese Entscheidung getroffen hat, aber ich denke, er fühlte sich sicher sehr traurig. . . Wie sehr hätte ich mir damals gewünscht, dass für ihn ein Crowdfunding-Aufruf gestartet wird!真正底层人民的惨状,那里没有互联网,没有众筹 (…)没有人为他们转发朋友圈,没有人为他们众筹,但他们才是真正需要被可怜的人。 (…) 我同村的一个同龄人,比我大一届,成绩很好,高考考上了中国人民大学,但是因为他父亲身患重病,医药费将整个家庭击垮,还欠下十几万债务。无奈之下,他选择放弃学业,上船打工,我不知道他做出这个决定时是怎样的一种心情,但我只是想想就已经很伤心了。多希望那时候能有人给他众筹啊!

 

Mit der rasend schnellen Entwickelung des Internets in den letzten Jahrzehnten ist ein System des Onlinespendens entstanden, das immer mehr Einfluss auf das Alltagsleben in China hat. Allein auf der bekannten Crowdfunding-Plattform „Einfaches Crowdfunding“ 轻松筹 wurden im Jahr 2015 über 23.000 Aufrufe für wohltätige Zwecke gestartet. Die eingesammelte Summe betrug über 1.800.000.000 Yuan (ca. 249 Millionen Euro). Abzuwägen, wie man Internetspenden am besten organisiert und kontrolliert, ist gleichermaßen eine Aufgabe für Bürger und die Regierung.

 

Zum Weiterlesen:

Florian Jung, Datendiebstahl in China: Telefonbetrug mit Todesfolge, SAC, 11.09.2016.

 

Daniel Soesanto, Chinas Rotes Kreuz im Sumpf der Korruption, SAC, 22.07.2011.

 

*Luo Yixiao ist am 24.12.2016 ihrer Krankheit erlegen.

Kategorien: Allgemein, Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Tags: , , , . Permalink.

Ist Ihnen dieser Beitrag eine Spende wert?
Dann nutzen Sie die Online-Spende bei der Bank für Sozialwirtschaft oder über PayPal.
Sicher online spenden über das Spendenportal der Bank für Sozialwirtschaft(nur Überweisung über 1 Euro.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.