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Allein: Chinas Einzelkinder und ihre sorgenvolle Gegenwart

Cover des Bilderbuchs "Allein"; Bildnutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlagshauses Jacoby & Stuart GmbH, http://tinyurl.com/j8o2jyu

Zu Hause allein sein, wenig Begleitung, selbstständiges Leben –  als Einzelkind erlebt man in China nicht nur das. Die gegenwärtige wie auch die zukünftige Altersstruktur der Gesellschaft bergen neue Sorgen.

 

Ein sympathisches Kleinkind wandelt auf dem Weg zu ihrer Oma zwischen einer Fantasiewelt und der Realität. Ohne textliche Interpretation führen die ruhigen, grau gezeichneten Bilder den Leser tief in die reine, aber einsame innerliche Welt dieses Einzelkinds ein. Das textfreie Bilderbuch „Allein“ (Originaltitel: Einzelkind独生小孩) der chinesischen Illustratorin Guojing wurde von der New York Times 2015 als eins der besten illustrierten Bücher ausgezeichnet. Die lebendige Darstellung, die den Kindheitserinnerungen der Autorin entlehnt ist, entführt die heutige junge Generation Chinas in die Welt ihrer eigenen Kindheit. Im August 2016 erschien eine chinesische Ausgabe. Die im Buch verarbeiteten Erlebnisse und charakteristischen Besonderheiten werden unter chinesischen Netzbürgern häufig diskutiert.

 

Djunjunjun z.B. erzählt im Onlinenetzwerk Zhihu:

 

„Es wäre unehrlich, wenn ich sagen würde, dass ich nie einsam war. Als ich in der 3. Klasse war, breitete sich die Epidemie SARS aus. Sogar die Betreuungseinrichtung „Haus der Jugendlichen“ machte in den Ferien nicht auf. Fast im ganzen ersten Halbjahr wurde ich alleine zu Hause eingesperrt. Ich konnte jeden Tag nur fernsehen (damals war Internet noch nicht üblich). Zum Glück waren meine Eltern nicht gegen Haustiere, sodass ich noch eine Katze hatte. Aber ganz ehrlich, es waren wirklich sehr langweilige Tage. Ich war des Fernsehens und Computers auch schon überdrüssig. Ich finde (trotzdem), dass Einzelkinder die Einsamkeit besser als Geschwisterkinder ertragen können.“孤独说完全没有是假的,小时候放假,尤其是三年级赶上非典,连少年之家这种托管班都不开了。基本上半年都被爸妈一个人反锁在家里。每天就是看电视(那会儿电脑还不怎么能上网),我家唯一好些的就是爸妈不反对养宠物,还有猫咪可以陪我玩。但是说真的,想起那个日子真的很无聊,电视电脑玩儿久了也是会腻的。我觉得比起有兄弟姐妹的孩子,独生子女真的很能忍受孤独。

 

Besonders oder normal?

 

Für alle Einzelkinder scheint Einsamkeit eine übergreifende Erfahrung zu sein. Außerdem erhalten sie gerne Etiketten wie „verwöhnt, egoistisch, asozial“. Viele werfen ihnen vor, dass eine Umgebung ohne Geschwister den Charakter verderbe. Derlei zunächst einmal unbegründete Vorurteile wurden aber auch schon öffentlich entkräftet, so von der New York Times. Demgemäß seien allein aufwachsende Kinder in zahlreichen Forschungsarbeiten, die sich mit den Charakteren der Betroffenen auseinandersetzen, genau wie Geschwisterkinder bewertet worden. Bei manchen Einzelkindern wird gerade durch das Alleinleben die Selbständigkeit gefördert. In diese Richtung argumentiert Wanglang11xiaolang in dem in China beliebten Baidu-Forum:

 

„Ich bin in der 90ern geboren und komme aus einer armen Familie vom Land. Meine Eltern sind Lehrer und beschäftigen sich sehr mit ihrer Arbeit. Ab der 3. Klasse fuhr ich selbst mit dem Bus zur Schule. Zur Mittelschule fuhr ich dann immer mit dem Fahrrad. Danach wohnte ich in einem Schülerwohnheim an der Oberschule. Ich war geschickt im Haushalten. Ich finde, dass ich die Hausarbeit besser als Geschwisterkinder mache.“90后√ 农村人【小县城】,父母老师,家里穷,父母工作忙,小学三年级开始自己坐公交车上学,初中骑自行车上学,高中住校,家务都会做,表示比非独做的好

 

Allein erwachsen sein

 

Die Ein-Kind-Politik betrifft alle, die zwischen dem Anfang der 80er Jahre bis zum Jahr 2015 geboren wurden. Viele davon haben heute schon eigene Familien und Kinder; unter denen, die in den  90ern geboren wurden stehen manche gerade vor dem Abschluss ihrer Ausbildung. In diesem Alter machen sie als Einzelkinder gerade noch ganz andere Erfahrungen. Die oben bereits zitierte Djunjunjun meint auf Zhihu, dass für sie, als einzige Tochter, die Einsamkeit nicht das Schlimmste sei. Vielmehr fühle sie sich bei Unfällen in der Familien, die das Alter der Eltern mit sich bringt, hilflos:

 

(…) Als ich mit meinen Eltern auf die Malediven reiste, litt meine Mutter plötzlich an akuter Periarthritis. Jede Nacht konnte sie wegen der Schmerzen nicht einschlafen, was meinen Vater allerdings auch beeinflusste. Mein Vater, der schon längere Zeit Durchblutungsprobleme im Gehirn hatte, fiel wegen des fehlenden Schlafes in Ohnmacht. Ich, als 20-jährige Studentin, betreute meine Eltern für drei Tage, ohne zu schlafen, und zwar auf den unglücklichen Inseln der Malediven. Ich fürchtete mich auch davor, dass mein Vater erneut ohnmächtig werden könnte. Am Ende konnte ich mich nicht mehr halten. Ich saß alleine am Strand und weinte die ganze Nacht bis zum frühen Morgen. Das war das erste Mal, dass ich als Einzelkind eine schwere Belastung auf meinen Schultern fühlte.我觉得作为独生女,我最强烈的感受不是所谓的孤独感,而是面对父母的衰老和很多家庭变故的无力感。 给父母养老对于独生子女来说真的是巨大的压力,而且家庭真的承受不起任何的变故。第一次切身的感受就是年初和爸妈出国玩,去马尔代夫。我妈突然犯了急性肩周炎,我爸因为脑血管一直不好因为我妈妈天天半夜疼的睡不着觉自己没休息好也晕了一次。我二十岁,大学还没毕业,在马尔代夫这么个坑爹的孤岛上一个人,三天基本没睡照顾我妈,还害怕我爸万一再晕了怎么办。最后实在撑不住了自己凌晨坐在马尔代夫的沙滩上哭了一晚上。这应该是我第一次感受到,作为一个独生子女,我未来的担子会多重。

 

Allerdings betreffen die Zukunftssorgen der Einzelkinder nicht nur die Betreuung der Eltern, sondern auch ihr eigenes Leben. Eine anonyme Netzbürgerin erzählt von ihrem konkreten Problem:

 

Ich studiere nun. Meine Eltern möchten, dass ich nach dem Abschluss in der kleinen Heimatstadt eine feste Stelle als Lehrerin annehme und einen berufstätigen Einheimischen heirate. Ich soll nicht woanders arbeiten, nicht in einem fremden Ort heiraten. (…) Ich verstehe meine Eltern schon. Aber wer ist denn für mein Leben verantwortlich, wenn ich das alles mitmachen würde?本人正在读大学,大学毕业之后父母希望我留在家里县城教书,工作稳定。然后找一个有单位的本地人结婚,不要出去工作,不许远嫁。(...) 这些我都懂,也能理解,可是,我为这些买单,谁又该为我仅此一次的人生买单?

 

Die Einzelkind-Generation stellt heute bereist die Hauptarbeitskräfte. Sie müssen die Verantwortung für Arbeit, Gesellschaft, Eltern, Kinder, aber auch für sich selbst auf ihren Schultern tragen. Aktuelle Probleme und Nachteile im Leben der Betroffenen werden nicht zuletzt durch Bücher wie das von Guo Jing in der Öffentlichkeit thematisiert.

 

Zum Weiterlesen:

 

Petra Kolonko: Generation Einzelkind, Frankfurter Allgemeine, 08.11.2014

 

Eva Dignös: „Man sollte Geschwister nicht zu sehr verklären“, Süddeutsche Zeitung, 18.09.2015

 

China beendet Ein-Kind-Politik,  Zeit Online, 29.10.2015

 

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