Sprache und sozialer Wandel in China: Wörterbuchredaktion sagt Nein zur Aufnahme „homosexueller Terminologie“ in Nachschlagewerk

Sprache und sozialer Wandel in China: Wörterbuchredaktion sagt Nein zur Aufnahme „homosexueller Terminologie“ in Nachschlagewerk

Verbreitet das „Wörterbuch Modernes Chinesisch“ antiquierte Wertvorstellungen? © www.news.cn

tongzhi“ hat im Chinesischen die Grundbedeutung „Genosse“, umgangssprachlich bezeichnet das Wort aber auch homosexuelle Männer. Die Redakteure eines maßgebenden chinesischen Wörterbuchs entschieden 2012 „tongzhi“ nicht in die Neuauflage aufzunehmen. Als Grund nannte die Redaktion die Gefahr eines Werteverfalls der chinesischen Gesellschaft.

 

Über viertausend neue Wörter wurden ins „Wörterbuch Modernes Chinesisch“ aufgenommen, das im Juli 2012 in neuer Auflage erschien. Die Bedeutungsvariante von „tongzhi“ sucht man allerdings vergeblich. Die Wörterbuchredaktion begründet dies damit, der Verbreitung von Vokabular mit Bezug zur Homosexualität Einhalt gebieten zu wollen. Wang Xuejin, ein renommierter Bildungsexperte und Rechtsanwalt, geht in seinem Essay in der Beijing Daily auf Konfrontationskurs mit den Lexikologen.

 

Die Argumente der Wissenschaftler – Wörterbücher müssen mit chinesischen Werten übereinstimmen

 

[…] Der Vorsitzende des chinesischen Lexikologiebundes, Jiang Lansheng, gewährte am 15. Juli 2012 beim Symposium zur Veröffentlichung des Wörterbuchs Einblicke [in die Arbeit der Redakteure] und erklärte, warum [diese Bedeutungsvariante des Wortes] „tongzhi“ nicht berücksichtigt wurde: Neben der Verbreitung und Vitalität von Wörtern […] müsse man auch deren Kompatibilität mit Wertanschauungen und ihre gesellschaftlichen Wirkungen mit einbeziehen. […] „tongzhi“ werde deshalb nicht aufgeführt, weil „wir solche Dinge weder fördern noch in den Fokus stellen wollen“. Diese Auffassung ist […] völlig inakzeptabel.

 

Wörterbücher sind hauptsächlich Werkzeuge mit Recherche- und Nachschlagefunktion. Es blättert doch niemand in Wörterbüchern, um Unterricht über Wertvorstellungen zu erhalten. Noch weniger wollen sich Leser dabei ideologisch beeinflussen lassen. […] Die Verfasser haben lediglich den Auftrag, Wörter […] korrekt zu erklären und vollständig aufzulisten. Sittliche Maßregelungen und Verhaltensvorschriften sind dabei fehl am Platz. […]

 

Die Arbeit der Redakteure – geleitet durch das politische Klima in China?

 

Aber die Redakteure […] begeben sich aus Angst, politische Fehler zu begehen, immer wieder auf Zusatzmissionen. Dies ist wohl auf den Geist jahrelanger politischer Kampagnen zurückzuführen. Der politische Hintergrund zeigt sich zwar nicht mehr so deutlich wie bei der 1978er-Ausgabe des Wörterbuchs, bei der die Vermittlung von Ideologie das Ziel der Zusammenstellung war. Dennoch ist es bis heute schwierig, den Einfluss vorherrschender Anschauungen abzuschütteln, denn die Redakteure nehmen immer die gegenwärtig dominanten Wertvorstellungen als Norm für Überarbeitungen. […]

 

Die Auffassungen der chinesischen Lexikologen – überholt und ohne Bezug zu sozialem Wandel?

 

Die Begründung der Experten […] halte ich für äußerst unangemessen. Ziehen wir doch die weltweite Entwicklung heran: Die Regierungen und Bürger aller Länder erkennen die Rechte Homosexueller bereits mehr und mehr an. Viele Menschen reagieren auf Homosexuelle nicht mehr mit Verachtung, sondern haben eine offene und nachsichtige Einstellung und akzeptieren deren sexuelle Ausrichtung. Homosexuelle sind sicherlich nicht homosexuell, weil Homosexualität gefördert wird. Vielmehr ist ihre sexuelle Ausrichtung durch ihre Gene und Veranlagung vorbestimmt. Jemand wie ich könnte niemals homosexuell werden – egal, wie sehr man mich auch dazu ermuntert. Die Experten […] unterschätzen die […] Fähigkeit zu selbstständigem Denken in unserer Gesellschaft. Ihre Ausführungen offenbaren, dass ihre Wertvorstellungen nicht mit denen unserer Zeit schritthalten. Offiziell fand „tongzhi“ keine Berücksichtigung, um Homosexualität aus dem Fokus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Dadurch kommt die Geringschätzung […] der Experten gegenüber Homosexuellen zum Vorschein. Ist es nicht äußerst problematisch, dass die Erstellung von Wörterbüchern mit solch antiquierten Wertvorstellungen geleitet wird?

 

Wörterbücher mit erhobenem Zeigefinger – ein Konglomerat aus Widersprüchen

 

Ein Wörterbuch auf Basis von Wertvorstellungen zusammenzustellen führt zu einigen Widersprüchlichkeiten, und dass viele Dinge unter den Teppich gekehrt werden, ist sehr bedauerlich. Wenn die Experten […] „tongzhi“ aufgrund von Überlegungen zu Wertvorstellungen und sozialen Wirkungen nicht aufnehmen, müssten dann gemäß ihrer Logik nicht auch „Nutte“, „Gewaltverbrecher“, „fremdgehen“, „korrupter Beamter“ […] und weitere negativ konnotierte Begriffe außen vor bleiben? Warum tauchen diese Wörter dennoch in allen Editionen des Wörterbuchs auf? Letztere Begriffe sind jedenfalls weitaus negativer konnotiert als „tongzhi“. Ist es nicht verwunderlich, dass die Redakteure keine Angst davor haben, der Anstiftung zu Gewaltverbrechen und zu korrupter Amtsführung bezichtigt zu werden? Wie lächerlich ist das denn alles? […]

 

Sprache als wertfreies Mittel der Kommunikation?

 

Warum können Linguisten nicht verstehen, dass Sprache lediglich ein Mittel gesellschaftlicher Kommunikation ist? Sprache dient allen Mitgliedern der Gesellschaft, sie hat an sich weder Klassencharakter noch eine moralische Ausrichtung. Die Aufgabe von euch Sprachexperten ist es, die Orthographie, Phonetik und die Bedeutung von Wörtern zu erklären. Was Menschen dann mit diesen Wörtern auszudrücken und zu tun gedenken, ist ihre Sache!

 

 

Zum Weiterlesen:

 

Verena Menzel: „Tongqi – Ehefrauen homosexueller Männer in China“ , Stimmen aus China, 23.01.2012

 

Marie-Luise Abshagen: „Gleichberechtigung für Homosexuelle – wie sehen Sie das?“ , Stimmen aus China, 08.03.2011

 

Molly Gray: „Chinese Dictionary refuses to turn comrades gay“, CNN online, 25.07.2012 (englisch)

 

 

 

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