Männer mutieren zu Wölfen, Brücken stürzen ein und Kinder kommen in Mülltonnen um. Ein achtminütiger Zeichentrickfilm zeigt trotz bunter Farben ein düsteres Bild vom Leben eines „modernen Chinesen“. SAC liefert Ausschnitte des Skripts und erläutert, welche Anspielungen sich zwischen den Bildern verstecken.
„… sein Leben ist das Leben aller modernen Chinesen”. Wenn das wirklich der Fall sein sollte, dann ist das Leben des „modernen Chinesen“ nach der überspitzten Darstellung des Nachrichtenteams der Internetfirma Tencent vor allem gekennzeichnet durch Eintönigkeit, Druck und Überlastung, gepaart mit kleinen und großen Katastrophen, die von außen auf die schlaftrunkenen Protagonisten einprasseln.*
Skript zum Film
Nach einem kurzen Seitenhieb auf die angebliche Weltuntergangsprophezeiung der Maya wird die Hauptperson eingeführt. Der Protagonist des Kurzfilms trägt in Anlehnung an eine Romanfigur des bekannten chinesischen Autors Lu Xun den Namen „Q“. (Zum Video mit deutschen Untertiteln links.)
Der moderne Chinese Q, männlich, 29, arbeitet in Stadt X. Zumeist wird er einfach „Nach-X-Getriebener“** gerufen. Monatliches Einkommen 3.600 Yuan (ca. 440€). Diese Zahl entspricht dem monatlichen Durchschnittseinkommen eines Chinesen. Sein Leben ist wie das Leben aller anderen modernen Chinesen.摩登中国人小Q,男,29岁,在X城工作,多数时候会被叫做X漂。月薪3600块,这个数字刚好是中国人的平均薪资。他的生活,也是所有摩登中国人的生活。
Qualen der modernen chinesischen Arbeitswelt
Jeden Morgen, von Montag bis Samstag, wird Q erbarmungslos von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Selbst am Sonntag schält er sich aus purer Gewohnheit aus dem Bett.
Laut Statistik haben 35% aller Chinesen Probleme, die gesetzlich vorgeschriebene Freizeit in Anspruch zu nehmen. Viele haben sich bereits an einen ununterbrochenen Arbeitsmodus gewöhnt.数据显示,在中国有35%的人难以休完规定假期,不间断的工作状态已成不少国人习惯.
Krawalle im Zuge der chinesischen Anti-Japan-Proteste
Auf dem Weg zur Arbeit hört Q in seinem Nissan Radio. Dass er und sein Auto am dritten Tag ganz zerbeult daher kommen, ist nicht etwa Folge eines Verkehrsunfalls. Aus dem Radio schallt die Nachricht, dass im Rahmen anti-japanischer Proteste einige Autos japanischen Fabrikats von Randalierern demoliert worden seien. Dass Q das Nissan-Logo daraufhin durch eine provisorische chinesische Flagge ersetzt, hat neben dem Selbstschutz auch einen faktischen Hintergrund.
21,42% der PKWs, die im ersten Halbjahr 2012 in China verkauft wurden, stammen von japanischen Herstellern. Der Großteil davon wurde von chinesischen Arbeitern zusammengebaut.2012年上半年,中国的日系轿车销售量占轿车销售总量的21.42%。其中大多数都由中国工人组装生产.
Verpestete Luft in China
Weder dichtes Gedränge, noch andere Unannehmlichkeiten können Q davon abhalten, den Lift zu benutzen. Alleine die Anwesenheit des Chefs führt dazu, dass er lieber das Treppenhaus nutzt. Auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz passiert Q Reihe um Reihe von Kopien seiner selbst, die auf Computertastaturen einhämmern und hastig an ihren Zigaretten ziehen.
In einem Ranking der Luftqualität liegt Shanghai auf Rang 978 und Peking auf Rang 1.035. Einige scherzen: Rauchen ist gesünder als Atmen.上海在1100个全球城市中空气质量位居978,而北京名列1035.不少人戏谑,呼吸不如抽烟。
Einstürzende Neubauten
Vor dem Fenster von Qs Büro entsteht in rasender Geschwindigkeit eine neue Brücke, die kurz nach ihrer Eröffnung allerdings schon wieder in sich zusammenbricht.
Die Bauprojekte chinesischer Städte haben eine durchschnittliche Lebensdauer von 25 bis 30 Jahren. Diese Zahl liegt weit unter dem international üblichen Standard von 50 bis 100 Jahren.中国城市建筑生命平均只能维持25年到30年,远低于国际通告的50-100年的耐久年限。
Gesellschaftliche Kälte
Mit Qs Firma geht es bergab und immer mehr Mitarbeiter werden entlassen. Übrig bleiben nur ein paar Wölfe, die ohne Rücksicht auf sich selbst oder andere Mitarbeiter dem anpeitschenden Leitwolf folgen.
Auf seinem Heimweg kommt Q an einer Brücke vorbei, unter der Obdachlose leben und einige Kinder Ball spielen. Am dritten Tag sind alle verschwunden.
Wenn es um Obdachlose geht, wenden viele Städte neben Hilfeleistung auch andere Methoden an. So werden z.B. unter Brücken spitze Zementkegel aufgestellt und Spruchbänder angebracht um ‚weiche Ausweisung‘ zu betreiben.***很多城市,在应对游泳人群时,采取的措施除救助外,还会使用在立交桥下修筑水泥锥和张贴标语等方式进行软性驱赶。
Das Abendprogramm des „modernen Chinesen“
Nach seiner Heimkehr setzt sich Q vor den Fernseher. Trotz seines wilden Zappens, ändert sich nichts am Programm.
Als Fernsehsendung für das gesamte Volk wird Xinwen Lianbo um 19 Uhr nicht nur in den nationalen sondern auch in allen regionalen Fernsehsendern ausgestrahlt. Die Kosten für einen Werbeslot von zehn Sekunden in dieser Sendung beliefen sich 2012 auf 3.654 Mio. Yuan (ca. 447 Mio. Euro).《新闻联播》作为公共电视节目每晚19:00都在央视和各个地方卫视播出。2012年,《新闻联播》10S广告中标金额达36.54亿元。
Über den Fernseher wird die Nachricht von Bo Xilais Parteiausschluss verbreitet. Warum just in diesem Moment auch Steven Spielbergs Alien „E.T.“ vor dem Fenster vorbeifliegt, bleibt offen.
Der Film endet schließlich mit Zitaten aus Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“:
Das Leben kann ja so frei und wundervoll sein,
aber wir sind vom Weg abgekommen.
Wir haben Geschwindigkeit entwickelt,
aber innerlich sind wir stehen geblieben.
Wir denken zu viel und fühlen zu wenig.
Mehr als alle Maschinen brauchen wir Menschlichkeit.****
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* Das Video ist angelehnt an Charlie Chaplins Film „Modern Times“. Dieser Meilenstein der Filmgeschichte richtete sich 1936 mit Slapstick und Übertreibung gegen die Auswüchse des Taylorismus.
** Umgangssprachlicher Modeausdruck für zumeist gut ausgebildete, von auswärts stammende junge Menschen. Ein Beijing-Piao北京漂 bezeichnet zum Beispiel jemand, der in Peking arbeitet oder Arbeit sucht, dort aber noch nicht Fuß gefasst hat.
*** Die fünf ballspielenden Kinder sind eine Anspielung auf das tragische Unglück, das sich im November 2012 in der in Westchina gelegenen Stadt Bijie ereignete. Dort erstickten fünf Kinder bei dem Versuch, sich im Inneren einer Mülltonne an einem Feuer vor den eisigen Temperaturen zu schützen.
**** Transkription übernommen von Spiegel Online.
Zum Weiterschauen
„Modern Times“ – ein Film über das Leben des „modernen Chinesen“ (in chinesischer Sprache)
Hintergrund zur einstürzenden Brücke: Im August 2012 fiel in der nordostchinesischen Stadt Harbin ein 130 Meter langer Brückenabschnitt in sich zusammen und riss zwei Lastwagenfahrer mit in den Tod. Die Brücke war erst ein Jahr zuvor fertiggestellt worden.(http://german.china.org.cn/china/2012-08/24/content_26324640.htm)
Als Q die Unterführung zum dritten Mal passiert, prangt auf der Mülltonne der Schriftzug: „Menschen und Tieren ist der Zutritt strengstens verboten. Zuwiderhandlung auf eigene Gefahr.“ Der Stadtreinigungsbeauftragte von Bijie veranlasste tatsächlich solche Plakatierungsaktionen und zog damit den Unmut der chinesischen Online-Gemeinde auf sich (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-90438213.html).
Die spitzen Zementkegel sind eine Anspielung auf bauliche Maßnahmen, die z.B. in der ostchinesischen Provinz Guangdong „zur Verbesserung des Erscheinungsbildes der Stadt“ umgesetzt wurden. Sie sollen verhindern, dass Obdachlose die Brücke als Unterschlupf nutzen.