„China ist das Königreich der Lügen“ – Li Chengpengs gewagte Rede an der Peking Universität

„China ist das Königreich der Lügen“ – Li Chengpengs gewagte Rede an der Peking Universität

Li Chengpeng bei einer Signierstunde anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Buchs in Chengdu © NTDV.TV

Am 18.11.2012 hielt der bekannte chinesische Schriftsteller Li Chengpeng* eine bemerkenswerte Rede vor Studenten der Peking Universität. Darin kritisierte er die Unzulänglichkeiten der Redefreiheit in China. Noch am gleichen Tag fand der Redetext über chinesische Blogs und Social Media weite Verbreitung und erhielt tausende sympathiebekundende Kommentare. Tags darauf war ein Großteil der Beiträge bereits der Zensur zum Opfer gefallen. Folgend eine gekürzte Übersetzung der Rede.

 

 

China verliert seine Fähigkeit zu sprechen

 

Ich wurde eingeladen, um heute hier, an der Peking Universität, zu sprechen. Da einst vor mir, an dieser Stelle, so schillernde Persönlichkeiten wie Hu Shi und Chen Duxiu standen, komme ich nicht umhin, über die Redefreiheit zu sprechen, denn China verliert derzeit seine Fähigkeit zu sprechen.

 

Sogar Tiere haben mehr oder weniger die Fähigkeit zu sprechen. Menschen als hohe Tiere sind in der Lage, dem einfachsten Bedürfnis sprachlich Ausdruck zu verleihen: „Ich habe Hunger.“ Aber während der großen Hungersnot Anfang der 1960er Jahre hat die ganze Nation ihre Sprache verloren. Im offiziellen Diskurs gab es keine Wahrheit und alle taten so, als glaubten sie, dass die Nachrichten von den großen Gewinnen wahr und ihr eigener Hunger erfunden sei.

 

Nicht nur der Hunger wurde tabuisiert, auch den Satz „Ich liebe Dich“ konnte man nicht offen aussprechen. Damals galt dies als „bürgerliches Gebaren“. Als 1980 der Film „Love Is The Last Word“ herauskam und die beiden Hauptdarsteller einander „Ich liebe Dich, Ich liebe Dich!“ zuriefen, war die gesamte Nation geschockt.

 

Damals unter Mao konnte man nicht aussprechen, was jeder instinktiv wusste: Ich habe Hunger. Man konnte nicht sagen, was man fühlte: Ich liebe Dich. Man konnte nicht die politischen Führer kritisieren, denn Kameraden anzuschwärzen war falsch. Man konnte nicht über Wissenschaft sprechen, denn man musste sagen, dass auf einem Acker zehn Tonnen Getreide erwirtschaftet werden können. Man durfte nicht einmal die Natur beschreiben. Zu sagen, dass die Sonne schädlich sein kann, hätte ein schlechtes Licht auf die politischen Führer geworfen. Sprechen als animalischer Instinkt, als Art zu denken, als Recht war uns genommen worden.

 

Chinesisch heute – Eine Sprache der Lüge und Verschleierung

 

Dieser Verlust öffnet der Lüge Tür und Tor. Die Lüge hat erschreckenderweise aber noch eine andere Art von Sprache hervorgebracht: die Geistersprache. Lügen dienen lediglich dazu, andere irrezuführen: Unser Dorf produziert zehn Tonnen pro Acker. Geistersprache aber zehrt Menschenleben auf: Alle Dörfer müssen zehn Tonnen pro Acker erwirtschaften, und wer das nicht einsieht, wird umgebracht. Als man begann, Lügen mit Beförderungen und Reichtum zu belohnen, wurde unser Land zum Königreich der Lügen. Dieser Prozess hält bis zum heutigen Tag an.

 

Bis heute unterliegen Veröffentlichungen einer strengen Zensur. Immer wenn die Behörden verkünden, dass unser Land die meisten Bücher und Zeitungen herausbringt, denke ich mir, dass unser Land auch das meiste Klopapier produziert. China bringt die meisten „sensiblen“ Wörter hervor, z.B. „Platz des Himmlischen Friedens“, die „Massen“ oder „Versammlung“. Also dürfen wir nur singen: „Ich liebe Pekings Platz des Himmlischen Friedens, die Sonne geht auf über dem Platz des Himmlischen Friedens“! In ferner Zukunft wird unsere Sprache unverständlich sein.

 

Kürzlich las ich einige Werke von Jefferson über Redefreiheit: Ob es in einem Land Redefreiheit gibt lässt sich nicht danach beurteilen, inwieweit die Machthaber Kritik tolerieren, sondern ob sie die Macht haben, diejenigen mit abweichenden Meinungen zu bestrafen. Redefreiheit ist die erste Voraussetzung für Demokratie und gleichzeitig ihr letztes Bollwerk.

 

Die jüngsten sozialen Proteste in China wurzeln im politischen System

 

Shifang, Qidong und Ningbo das waren alles keine politisch motivierten Zwischenfälle, sondern dort waren Menschen, die lediglich ihre Stimmung ausdrücken wollten. Einige meinen, dass die Zwischenfälle das Werk von Funktionären waren. Ich dagegen glaube, dass die Wurzel des Problems ein Geburtsfehler unseres Systems ist. Als es errichtet wurde, gab es einen verheerenden Software-Fehler, und um diesen zu beheben wurde eine Anti-Virus-Software eingeführt. Aber auch diese hatte einen Fehler, sodass eine neue Software herangezogen werden musste. Dahinter stand immer die Auffassung, dass das Volk kein Recht auf Redefreiheit hat und es daher für seine Äußerungen bestraft werden müsse. So wurde unser System arrogant, sensibel und autistisch: ein autistischer Riese.

 

Die Diskurshoheit des Staates muss gebrochen werden

 

Ich habe keine politischen Ambitionen, ich strebe lediglich danach, mein Recht zu sprechen und zu schreiben zu erhalten. Für ein Volk, das die schönste Sprache der Welt hervorgebracht hat, über solch lebhafte Texte verfügt und über sehr lange Zeit die Zensur aufrechterhält, ist „Sprechen“ mittlerweile ein großes Problem. Alle langweilen sich zu Tode in diesem sterilen und plastikhaften Sprachgeflecht aus Lügen, Verschleierungen und Unsinn.

 

Hoffentlich haben wir nur temporär die Fähigkeit zu sprechen verloren. Diskurse konnten schon immer am einfachsten von den Machthabern kontrolliert werden, aber gleichzeitig wird die Macht über die Diskurse die erste Festung sein, die fallen wird.

 

 

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* Li Chengpeng ist bekannt durch Reportagen über Korruption im chinesischen Fußball und sein Engagement für die Aufklärung staatlichen Versagens infolge des Erdbebens in Sichuan 2008. Mit über sechs Millionen Followern auf Sina Weibo ist er einer der populärsten chinesischen Regierungskritiker.

 

 

Zum Weiterlesen

 

Shen Yun: „,Die sind verrückt‘ – Autor Li Chengpeng erhält Mundverbot bei Signierstunde“, NTD Television, 15.01.2013.

 

Samuel Wade: „Controversy Pursues Li Chengpeng Book Tour”, China Digital Times, 15.01.2013.

 

David Bandurski: „Li Chengpeng: Why I signed in silence”, China Media Project, 23.01.2013.

 

Edward Wong: „Protest Grows over Censoring of China Paper”, New York Times online, 7.01.2013.

 

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