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Das Internet frisst seine Kinder – Han Han kritisiert Sina Weibo

Han Han ist erst seit knapp einem Jahr auf Weibo und hat schon über elf Millionen Follower. Wie er selbst sagt, wird die Followerzahl aber durch etliche systemgenerierte und nicht aktive Follower verzerrt © Screenshot Maximilian Kalkhof

CNN nannte ihn „Chinas rebellischen Blogger“, das Time Magazine und der britische New Statesman wählten ihn zu einem der einflussreichsten Menschen der Welt. Han Han gilt als Gesicht der chinesischen Generation 2.0. Doch in seinem jüngsten Blogeintrag äußert sich das Allroundtalent überraschend kritisch über den größten chinesischen Mikroblogdienst Sina Weibo.

 

Sein Blog ist das vielleicht meistgelesene der Welt. Seit 2006 bloggt Han Han aufmüpfige Artikel. Damit zettelte er keine Revolution an, machte aber stets als unerhört freche und freigeistige Stimme des jungen China von sich reden und handelte sich den Ruf ein, Pionier der chinesischen Internetgeneration zu sein. Doch mit seinem jüngsten Blogeintrag könnte sich das ändern. In ihm distanziert sich Han Han von Sina Weibo und seinen über 300 Millionen Nutzern.

 

Am 28. Februar 2013 schrieb Han Han anlässlich des neuen chinesischen Jahres einen Eintrag mit dem Titel „Über Weibo und Weixin“. Sina Weibo, oft als chinesisches Twitter bezeichnet, ist Chinas meist besuchte Webseite, auf der täglich mehr als 100 Millionen Nachrichten verschickt werden. Weixin ist eine Software der chinesischen Firma Tencent mit der man Audio- und Textnachrichten versenden kann.

 

Sina Weibo: Die alternativlose Scheinwelt

 

Zwar erkennt Han Han die Bedeutung Sina Weibos für die chinesische Öffentlichkeit an und betont sogar, dass kein Weg daran vorbei führe:

 

Natürlich hat Weibo Vorteile. Mit Weibo lassen sich Nachrichten nicht mehr leicht sperren und die Meinungsäußerung wird freier. In Notfällen gibt es keine Alternative zu Weibo.微博当然有它好处,他让新闻不再容易封锁,让言论更加自由,在一些非常时刻总是只剩它能用。

 

Aber er kritisiert, dass viele Nachrichten auf Weibo schlichtweg unüberprüfbar seien. Zudem entstehe durch die Bedeutung, die manche Themen in der digitalen Welt erlangen, eine absurde Scheinrealität, die mit der Wirklichkeit auf Chinas Straßen nichts zu tun habe.

 

Gleichzeitig begeben wir uns mit Weibo ins Reich der Unüberprüfbarkeit. Wenn Sätze oder Schnipsel mehrere zehntausend Mal weitergeleitet werden, kann man schon den Eindruck bekommen, die ganze Straße rede davon, um irgendein Ereignis einzuholen. Man kann sich dem gar nicht entziehen und denkt, dass sogar die Kakteen in der Taklamakan-Wüste gerade darüber diskutieren.但同时,它让我们置身虚妄,如果哪天说句什么话或者摘录了个段子转发了几万,你会觉得满大街都在传诵你的名句,赶上个什么事件,人们总是情不自禁投身其中,而且会以为塔克拉玛干里的仙人掌们都在讨论这事。

 

Weibo als Blitzableiter des chinesischen Volkszorns

 

In Han Hans Augen ist Sina Weibo vor allem ein Ort, an dem sich Emotionen entladen, aber kein Nachrichtenkanal, dem man vertrauen kann.

 

Mein Eindruck ist, dass man außer ein bisschen Einsicht und Informationen, die man auch andernorts bekommen kann, vor allem Emotionen aufnimmt, wenn man ganz in Weibo eintaucht. Wenn man objektiv und ruhig bleiben möchte, verschwendet man zum Prüfen der Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt einfach zu viel Zeit.反正我的感觉是——如果沉迷其中,除了一点点启发和在其他地方也能看到的资讯,你收获的全是情绪;如果你想保持客观冷静,又会在甄别各种消息的真假里花费了太多时间。

 

Den Weg aus der vorgegaukelten Wichtigkeit sieht der 30-jährige, der seit 2010 Vater einer Tochter ist, in Innerlichkeit und Intimität.

 

Nach einem Tag auf Weibo glaubt man, viele große und kleine Nachrichten erfahren zu haben, aber am Tag darauf hat man sie vergessen. Lange Gespräche mit Freunden, Essen mit der Familie, Ausflüge mit der Tochter, das vermag Menschen doch viel mehr zu berühren.你刷了半天,觉得知道了不少大道小道消息,第二天全忘了,反倒是和朋友的一次长谈,和家人的一次聚餐,和女儿的一次外出更能触动人。

 

Weibo als Tummelplatz der Eliten

 

Schließlich geht Han Han gar so weit, Weibo den gleichen Elitarismus zu attestieren, den er in der chinesischen Gesellschaft sieht.

 

Eigentlich sind Weibo und die chinesische Gesellschaft gar nicht so unterschiedlich: ein Tausendstel der Menschen hat ein bisschen Status und Rederecht, vier Tausendstel der Menschen kümmern sich emsig um sich selbst und die restlichen (…) Tausendstel sind einfache Menschen (…).微博的生态和中国社会其实差不多,千分之一的人本来就有点身份和话语权,千分之四的人用心在经营自己,剩下千分之九百九十都是草民 (...)。

 

Außerdem beklagt Han Han, dass sich viele Netizens auf Weibo und Weixin unterschiedlich verhielten. Sie wechselten ihre Meinung wie Kleidung und passten ihre Posts den Erwartungen der Freunde und Fans an, so dass völlig unklar bleibe, für was jemand steht.

 

Ich stelle oft fest, dass Menschen mit zwei Gesichtern auf Weibo und Weixin auftreten. Zum Beispiel sieht man heute jemanden bei einem Hundefleisch-Feuertopf auf „gefällt mir“ drücken. Morgen aber verdammt die gleiche Person auf Weibo Hundefleisch in Bausch und Bogen.常能发现一个人以两种面貌出现在微博和微信中,比如今天还看见他在朋友圈赞晚上吃的狗肉火锅,明天就看见他在微博上对吃狗肉的口诛笔伐。

 

„Das Tao liegt im Bummeln“

 

Schließlich betont Han Han, der nicht nur erfolgreicher Blogger, sondern auch professioneller Rallyefahrer, Schriftsteller, Magazingründer und Songwriter ist, dass das Leben viel zu spannend sei, um es auf Weibo zu vergeuden:

 

Als Schriftsteller finde ich es wichtig, mit einem Handy, das nicht „smart“ ist, viel herumzukommen. (…) Im Leben geht es zwar darum, Zeit zu verbummeln. Aber gerade im Bummeln liegt auch das Tao. (…) Es gibt so viele packende Gesichter und Landschaften, dass ich hoffe, dieses Jahr weniger Zeit vor dem Bildschirm zu vergeuden. Weibo und Weixin sind zwar nicht schlecht, aber sie sollten nicht mein Leben zerfressen. (…)作为一个写作者,拿着一部非智能手机多走一些地方是挺必要的。(...) 人生虽是消磨时光,但消磨亦有道。(...) 有这么多生机勃勃的面孔和美景,希望今年能在两块屏幕上耗更少一点时间。这双微虽然都还不错,但不能侵蚀太多我生活。(...)

 

Wahrscheinlich ist Han Hans Blogeintrag als Aussage darüber zu verstehen, wie er sich selbst sieht und gesehen werden möchte: als Schriftsteller und nicht als Blogger.

 

 

 

Zum Weiterlesen

 

Sina Weibo – Spiegel einer kritischen Gegenöffentlichkeit in China, Stimmen aus China, 6. Februar 2013.

 

Guttenberg in Shanghai, taz, 22. Februar 2012.

 

Kategorien: Gesellschaft, Kultur, Tags: , , . Permalink.

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4 Antworten zu Das Internet frisst seine Kinder – Han Han kritisiert Sina Weibo

  1. Erinnert ein bisschen an die Twitter-Kritik Christoph Lauers (Berliner Abgeordneter der Piraten-Partei): »Twitter ist für mich gestorben« > http://popcornpiraten.de/christopher-lauer-verkundet-twitter-ist-fur-mich-gestorben

  2. Den Titel anders gewendet: Han Han frisst seine Mutter.

  3. Bei SPON findet sich ein Artikel zu den “Karteileichen” bei den Sina Weibo-Nutzern: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/bei-chinas-twitter-klon-sina-weibo-finden-sich-viele-pseudo-profile-a-888559.html Wie in den Kommentaren dort bereits zu lesen ist: Für einen Social Media-Dienst ist das nicht sonderlich überraschend. Zudem stellt sich die methodische Frage, wie Nutzerverhalten überhaupt zu messen ist. Eine Messgröße sind Postings, Weiterleiten, Followers usw. Aber wie messe ich passives Nutzerverhalten, dass sich “nur” durch Anschauen ausdrückt?

  4. avatar Maximilian Kalkhof sagt:

    Die Parallele zu Christopher Lauer ist mir auch aufgefallen und ich habe sogar kurz überlegt, damit einzusteigen. Gelassen habe ich’s deswegen, weil es ja hier um Han Han und China geht.

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