Der betagte Bilderstürmer Mao Yushi schrieb im April 2011 einen geradezu blasphemischen Artikel, in dem er mit ein paar Schriftzeichen die Mona Lisa des Tian’anmen demontierte: Mao Zedong. Der „Große Vorsitzende“, ein Verrückter, Sadist und Lüstling? In einer öffentlich noch nie zuvor dagewesenen Art und Weise wurden Mao Zedongs historische Taten in ein neues, schonungsloses Schlaglicht gerückt und er persönlich scharf angegriffen. Ungeheuerlich, dieser Tabubruch! So ungeheuerlich, dass ein postwendend Gewehr bei Fuß stehendes Häuflein chinesischer Ultralinker auf die Barrikaden stieg und den „Vaterlandsverräter“ vor den Kadi zerren wollte. Ein Beitrag von Oliver Pöttgen.
Der Angriff: Mao Yushis Kernthesen
Mao Yushi (茅于轼), ein 82-jähriger Ökonom aus Peking, forderte im April 2011 in einem nicht sehr langen, aber wortmächtigen Text öffentlich und unverblümt dazu auf, Mao Zedong aus dem Götterhimmel zu werfen. Man solle ihn endlich wieder als einfachen Menschen aus Fleisch und Blut betrachten und Kritik an ihm nicht mehr tabuisieren. Der mit „Aus Mao Zedong wieder einen Menschen machen“ betitelte Text findet sich im chinesischen Original und einer englischen Übersetzung hier. Auch wenn der Originaltext kurz nach seiner Veröffentlichung auf der liberalen Internetplattform Caixin Online wieder gelöscht und indiziert wurde, so löste er doch ein gewaltiges Echo aus. Pikant ist auch, dass der 1929 geborene Mao Yushi Vieles von dem wohl selbst miterlebte, was er Mao Zedong vorwirft. Bereits der Anfang des Texts dürfte jedem Maoisten die Zornesröte ins Gesicht treiben, wird Mao Yushi doch umgehend seiner eigenen im Titel bereits deutlich gemachten Forderung gerecht und führt dem Leser den abgehalfterten Mao Zedong der 1960er und 1970er Jahre vor Augen:
„他们永远看不到毛泽东控制不住自己而流口水,连说话都说不清,跨不上汽车而不得不请人把他抬上去,他长期卧床而腿肚子又细又弱。“
„Sie [gemeint sind die Mao-Verehrer] werden nie sehen können, dass Mao Zedong sich nicht kontrollieren konnte und deswegen sabberte, nicht mal mehr ein klares Wort herausbrachte, ins Auto nicht mehr einsteigen konnte und man nicht umhin kam, jemanden zu bitten, ihn hinein zu hieven und dass seine Waden wegen seiner ewigen Bettlägerigkeit dürr und klapprig waren.“
Mao Yushi verfällt aber nicht bloßer Polemik, sondern schießt sich dann schnell und kenntnisreich auf Mao Zedongs historische „Verdienste“ ein, in einer Deutlichkeit, die man jedem chinesischen Schulbuch nur wünschen kann. Breit ausgefächert werden der desaströse „Große Sprung nach vorn“, die das Land in Anarchie stürzende „Kulturrevolution“*, die ganze Familien zerreißende „Klassenkampf“-Ideologie, die unentwegte Stigmatisierung der Intellektuellen, der dubiose „Lin Biao-Zwischenfall“ sowie die Schicksale ehemaliger politischer Weggefährten Mao Zedongs, die ab den späten 1950er Jahren als Leichen seinen Weg pflasterten. Auf neue historische Quellen verweisend zeichnet Mao Yushi vom „Großen Vorsitzenden“ insgesamt das Bild eines paranoiden, machtgierigen, kaltblütigen und Kritik an seiner Person nicht ertragenden Verrückten, Sadisten und Lüstlings, der reihenweise auch ihm nahe stehende Menschen in den Selbstmord getrieben habe.
„在他的眼中,人民只不过是一推肉,是叫喊万岁口号的工具。权力欲望控制住了他的生命,他为此而完全疯狂了,用最大的代价去追求权力,[…]。[…] 毛给中国带来的是使人痛苦,然后死去。[…], 这祸国殃民的总后台还在天安门城楼上挂着,在大家每天用的钞票上印着。中国的这幕滑稽剧现在还没有真正谢幕。“
„In seinen Augen war das Volk nichts anderes als ein Haufen Fleisch, ein Werkzeug zum Ausrufen von „Lang lebe“-Parolen. Der Wunsch nach Macht bestimmte sein Leben, deswegen drehte er komplett durch und scheute bei seinem Streben nach Macht auch keinen Preis, […]. […] Menschliches Leid ist es, was Mao China gebracht hat, danach starb er. […] Dieser Strippenzieher allen Leids von Nation und Volk hängt noch immer am Tian’anmen und unsere täglich genutzten Geldscheine sind noch immer mit ihm bedruckt. Der wirklich letzte Vorhang dieses chinesischen Schwanks ist noch nicht gefallen.“
Mao Yushis Text schließt mit der Forderung, dass Mao Zedong ein Mensch und kein Gott gewesen sei, dass er endgültig vom Altar herunter und wieder zu einem gewöhnlichen Menschen werden müsse, um ihm dann seiner göttlichen Kleider entledigt und frei von Aberglauben sein gerechtes Urteil zuteilwerden zu lassen.
Die Reaktion Chinas Ultralinker
Kaum war diese Generalabrechnung veröffentlicht, da rumorte es auch schon auf der chinesischen Internetplattform Utopia (乌有之乡), der Heimat Chinas Ewiggestriger, die maoistische Gemeinde war in Aufruhr! Netizen Liu Jinhua verweist auf einen Genossen namens Chen Yudui, der Mao Yushi wegen Aufwiegelei zum Staatsumsturz und Verleumdung angezeigt habe. Mao Yushi wird als hasserfüllter Rechter hingestellt, der regelmäßig die Tatsachen verdrehe und böswillig Mao Zedong, die Kommunistische Partei und das sozialistische System angreife sowie mit Liu Xiaobo und anderen Unterzeichnern der „Charta 08“ den Staat stürzen wolle. Am Ende des Kommentars findet sich ein Formular, das sich vom geneigten Leser ausfüllen lässt und zur Anzeige Mao Yushis genutzt werden soll.
Der Kommentator j2008b sieht gar wieder westliche Mächte am Werk, die in China mit Hilfe chinesischer „Vaterlandsverräter“ Unruhe stiften und China wie die frühere Sowjetunion zum Zusammenbruch bringen wollten. Ob bewusst oder unbewusst, Mao Yushi und seine Unterstützer dienten diesem Ziel. Ohne wirklich auf die Kritik gegen Mao Zedong einzugehen, werden dann seine Großtaten bemüht: Er sei es gewesen, der China wieder habe aufstehen lassen, der aus dem Nichts ein den heutigen Wohlstand geschaffen habendes Industrie-, Erziehungs- und Gesundheitssystem aufgebaut habe usw. Das Leben in der Mao-Ära sei zwar hart, aber das soziale Klima gut gewesen. Einer Minderheit sei Unrecht widerfahren, ja, aber dies sei doch zum Wohle der Vielen geschehen. Jedes Jahr zeigten die für Mao Zedong abgehaltenen Gedenkveranstaltungen, dass die Mehrheit ihm danke und bloß ein kleiner Haufen ihn verunglimpfe. j2008b schließt prophetisch:
„历史是公正的!茅之流的嗡嗡叫改变不了历史。毛泽东永远是中华民族的英雄,而茅之流必将被扫进历史的垃圾堆。“
„Die Geschichte ist gerecht! Das Surren von Mao Yushi und seinen Anhängern kann die Geschichte nicht verändern. Mao Zedong wird auf ewig der Held der chinesischen Nation sein, Mao Yushi und seine Anhänger hingegen werden in den Müllhaufen der Geschichte gefegt werden.“
Wer letztlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landen wird, bleibt abzuwarten. Die Gerichte nahmen die Klage jedenfalls nicht an, Erfolg hatten die Ultralinken mit ihrer Aktion also nicht. Ganz im Gegenteil, denn die Mao Yushi und seinen Thesen zuteil gewordene Aufmerksamkeit wurde nur noch größer. Das begrüßten auch die Kommentatoren in folgendem Nachrichtenbeitrag eines Falun Gong nahen Senders, der abschließend die Ereignisse nochmal zusammenfassen und illustrieren soll:
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* Sehr persönliche Schilderungen aus dieser Zeit finden sich in Liao Yiwus Interviewband Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten.
Im Zuge der durch den „Wang Lijun-Zwischenfall“ in Gang gesetzten Ereignisse (Absetzung Bo Xilais u. Kritik an dessen ideologischen „Impulsen“) wurde neben anderen dem linken Lager zugerechneten auch die im Artikel referenzierte Seite Utopia / 乌有之乡 (vorübergehend?) geschlossen. Hier ein chin. Artikel dazu:
http://www.wenxuecity.com/news/2012/03/15/1679955.html
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