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Han Han über Revolution: Erster Teil einer kontroversen Aufsatzreihe des chinesischen Freiheits-Idols

Sein Name steht für eine neue Generation. Han Han zeigte Chinas Jugend, dass es auch anders geht: er brach die Schule ab, schrieb stattdessen Romane und fuhr Rallyerennen, bloggte, gründete eine Zeitschrift und stritt sich mit jedem intellektuellen Schwergewicht, das ihm in den Weg kam. Kurz: Han Han verkörpert wie kein Zweiter die Ideale der „Post-80er“, der chinesischen Generation, die Mao nur vom Hörensagen kennt. Nun meldet sich Han Han zurück. Im ersten von drei um Weihnachten 2011 erschienenen Blogeinträgen stellt Han Han waghalsige Revolutionsrechnungen an. Ãœbersetzt von Maximilian Kalkhof

 

Han Han 2011: „Über Revolution“

In jüngster Zeit blätterte ich durch viele Fragen, nach „Revolution“ und „Reform“ wird sehr häufig gefragt. Die Medien fragen auch gerne danach, aber meistens ist das nur ein privates Fragen und Antworten, das keine Aussichten auf Veröffentlichung hat. Egal welche Ansichten man aufschreibt, höchstwahrscheinlich wird es gefährlich. Ich möchte die ganze Länge dieses Aufsatzes nutzen, um mit der ersten Antwort auf die Leserfragen der diesjährigen Wintersonnenwende meine Auffassung von „Revolution“ darzulegen. Ich fasste die Fragen von Lesern und Medienleuten aus dem In- und Ausland zusammen und beantworte sie hier in einem Rutsch.


Frage:
In China ereignen sich in letzter Zeit sehr viele soziale Unruhen. Glaubst du, dass China eine Revolution braucht?

Antwort: In Ländern mit komplexer Sozialstruktur, insbesondere den Ländern des Ostens, sind die Profiteure einer Revolution immer die Rücksichtslosen. Offen gesprochen ist Revolution ein Wort, das sich frisch, feurig und unmittelbar anhört, aber Revolution und China ist nicht unbedingt eine gute Wahl. Zuallererst bedarf die Revolution einer Forderung, und die Forderung beginnt meist mit dem Widerstand gegen Korruption. Aber mit dieser Forderung kommt man nicht weit. „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ haben ebenso wenig einen Markt, denn wenn du auf die Straße gehst und die Menschen fragst, ob sie „frei“ sind, dann wird außer einigen Künstlern und Medienmachern die Mehrheit finden, dass sie „frei“ sei. Und wenn du sie nach „Gerechtigkeit“ fragst, dann werden die meisten finden, dass Ungerechtigkeiten völlig in Ordnung seien, sofern sie nicht ihnen selbst angetan werden. Da nicht jedem regelmäßig Ungerechtigkeiten widerfahren, sehen die Menschen nicht ein, für andere um Gerechtigkeit und Freiheit zu bitten. In China ist es sehr schwer, eine solche kollektive Forderung zu finden. Es geht nicht um die Frage, ob wir eine brauchen, es geht darum, ob es möglich ist. Meine Ansicht ist, dass es sowohl unmöglich als auch unnötig ist. Aber wenn du mich fragst, ob China stärkere Reformen benötigt, ist meine Antwort: auf jeden Fall.


Frage:
Warum führst du keinen Aufstand an?

Antwort: Was für ein Witz! Selbst wenn ich Revolutionen bejahte und in Shanghai einen Aufstand mittleren Ausmaßes anzettelte, dann müsste die Regierung doch noch nicht mal ihre Stabilisierungsmaschinerie ausrücken lassen. Sie müsste nur das Internet und das Mobilfunknetz kappen und schon würden uns die wütenden Massen vernichten, die nicht auf QQ (1) chatten, keine Online-Games spielen und keine Seifenopern schauen können. Du brauchst auch gar keine Hoffnungen darauf zu setzen, mich mit Tweets auf Weibo (2) zu unterstützen. Nach drei Tagen ohne Weibo wirst du mich hassen.


Frage:
Soll das etwa heißen, dass China weder Demokratie noch Freiheit braucht?

Antwort: Das ist ein Irrtum. Kulturleute verbinden meist Demokratie mit Freiheit. Aber für Chinesen wäre die Folge von Demokratie Unfreiheit. Denn in den Augen der meisten Chinesen hat Freiheit nichts mit Verlagen, Nachrichten, Kunst, Meinung, Wahlen oder Politik zu tun. Freiheit betrifft für sie nur öffentliche Moral, das heißt die Geradlinigen können frei lärmen, frei über die Straße gehen und frei spucken. Die Ausgekochten können frei gegen Regeln verstoßen, frei nach Lücken im Gesetz suchen und frei ihr Unwesen treiben. Eine gute Demokratie bringt sicher gesellschaftlichen Fortschritt und mehr Rechtstaatlichkeit. Doch das führt zwangsläufig dazu, dass sich die Mehrheit der Menschen, die sich nicht um kulturelle Freiheiten schert, unfreier fühlt, genau so, wie sich viele Chinesen in den entwickelten Ländern, wie Europa und den USA, nicht wohl fühlen. Deswegen muss man Demokratie nicht unbedingt mit Freiheit in Verbindung bringen. Ich denke, dass Chinesen eine eigene Definition von Freiheit haben, und dass Freiheit in China absolut keine Strahlkraft besitzt.


Frage:
Ich finde, dass China zu krank ist und Reformen keinen Nutzen mehr haben. Nur eine Revolution hilft das Blatt zu wenden.

Antwort: Lass uns mal annehmen, die Revolution würde nicht unterdrückt werden, auch wenn das natürlich unmöglich ist. Wir stellen uns mal eine Revolution vor. Also angenommen die Revolution würde eine erste Anfangsphase überleben, dann wäre es nie und nimmer möglich, dass die Studenten, die breite Masse, die Eliten, die Intellektuellen, die Bauern und die Arbeiter einen Konsens erreichen. Außerdem haben wir die ganze Zeit eine Bevölkerungsgruppe übersehen, und zwar die Armen. Die Zahl beläuft sich ungefähr auf 250 Millionen Menschen. Gewöhnlich bemerkt man deren Existenz gar nicht, sie benutzen nämlich nicht das Internet. Wenn sich die Revolution also bis in eine mittlere Phase entwickeln könnte, dann müssten bis dahin schon neue Revolutionsführer geboren worden sein. Denn eine Revolution ohne Führer ist zum Scheitern verurteilt. Der Aufstand des weißen Lotus (3) ist ein gutes Beispiel. Eine Revolution mit Führern muss aber nicht unbedingt besser sein, dafür ist der Taiping-Aufstand (4) ein gutes Beispiel. Chinesische Führer sind außerdem bestimmt nicht so gütig und barmherzig, wie du sie dir vor deinem Computer vorstellst. So ein Führer wäre wahrscheinlich selbstgerecht, eigensinnig, anmaßend, boshaft und cholerisch. Ja, das hört sich alles ein bisschen vertraut an. Aber Chinesen nehmen das hin, und nur so kommt man in China nach oben. Diese Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass die Schlechten den Ton angeben und die Guten Prügel beziehen. Die von Jungintellektuellen favorisierten Führer würden wahrscheinlich innerhalb von einer Woche aus dem Rennen fliegen. Außerdem würden Leute, die einen hohen Bildungsstand haben, den Führern ungern gehorchen. Diese Leute würden die Revolution am ehesten verlassen. Nach dem Ausscheiden der Eliten würde sich die Struktur der Revolutionsgruppe verändern und egal wie klangvoll der Slogan zu Beginn der Revolution war, würde dieser zu guter Letzt auf ein Wort schrumpfen: Geld. Etwas hübscher ausgedrückt würde er lauten: Gebt uns unser Geld zurück. Weniger wohlklingend würde es erplünderte Gleichverteilung sein. Glaubt nicht, dass ich, weil ich ein bisschen Geld verdient habe, mich davor fürchte, es wieder zu verlieren. Wenn man in den Fluten der Revolution ein Apple-Handy besäße, einen Motorroller führe, online ginge, eine Zeitung kaufte oder bei Kentucky Fried Chicken äße, dann würde man als reich zählen. Wenn man dann auch noch im Netz diesen Artikel läse, dann würde man als sündiger Feind der Revolution durchgehen. Ein Privatbesitz von 100 Millionen wäre sicherer als 10.000. Denn vor einer 100-Millionen-Tür liegt morgens schon die New York Times. Zu guter Letzt wäre es der Mittelstand und die untere Mittelschicht, die dran glauben müssten. Früher haben sich die Menschen in den verschiedensten politischen Bewegungen gegenseitig zerfleischt, heute kennen sie nur noch Geld. Deswegen wurden viele Menschen so konditioniert, sich des Geldes wegen gegenseitig zu zerfleischen. Stell dir das also mal vor! Aber da Chinesen ja Wert auf Schuldtilgung legen, würde es sofort zur Niederschlagung kommen.

Revolutionen brauchen immer Zeit. China ist ein riesiges Land, es könnte leicht zu Chaos, Kriegswirren und einem Machtvakuum kommen. Wenn China für nur fünf oder zehn Jahre im Chaos versänke, würde sich das Volk bestimmt nach einem Diktator mit eiserner Faust sehnen, der die gesellschaftliche Ordnung wiederherstellt und mal aufräumt. (…)


Frage:
Und was ist mit Ägypten, Libyen…

Antwort: Ägypten und Libyen wurden von einem einzigen Diktator über Jahrzehnte kontrolliert. Auch gibt es dort nicht viele Städte. Eine Erhebung als Sprengsatz und einige Plätze, wo man Reden halten kann, reichen da schon für die Revolution aus. In China gibt es kein Individuum, gegen das sich die Revolution wenden könnte, außerdem gibt es viele Städte und die Bevölkerungszahl ist riesig. Zudem ereigneten sich schon die skurrilsten Katastrophen, der G-Punkt ist bereits taub, von Sprengsatz ganz zu schweigen. Selbst wenn die gesellschaftlichen Gegensätze zehn Mal schärfer wären und zehn Vaclav Havels in zehn Städten Reden hielten, dann wäre es das Schicksal dieser Reden von der Halsbonbon-Industrie als Slogan benutzt zu werden und schlussendlich im Pekinger Haidian-Kino zu enden.

Natürlich ist das, was ich bisher gesagt habe, Unsinn. Die Krux ist die Gewohnheit der Chinesen, angesichts des Todes anderer Menschen keinen Mucks zu machen und nur laut zu werden, wenn es ihnen selbst an den Kragen geht. Deswegen kommt keine Solidarität zu Stande.


Frage:
Deine Ansichten hören sich an wie die der 50-Cent-Partei (5). Wurdest du von der Regierung gekauft? Warum kann nicht jeder Chinese mit einem Stimmzettel den Parteivorsitzenden wählen?

Antwort: In einer schwarz-weißen Freund-Feind-Gesellschaft wie der unseren kommt das Wort „Revolution“ tyrannisch daher, ausgeführt richtet es noch mehr Schaden an. Vielleicht glauben viele Leute, dass es Chinas dringendste Priorität sei, den Parteivorsitzenden mit einem Wahlzettel pro Nase zu wählen. Aber das ist nicht Chinas dringlichste Aufgabe. Im Gegenteil, selbst mit einem Stimmzettel pro Wahlberechtigtem wären die Sieger immer noch die Abgeordneten der Kommunistischen Partei, denn niemand ist reicher als sie. Mit 50 Milliarden lassen sich 500 Millionen Wahlzettel kaufen. Wenn´s nicht reicht, erhöht man eben auf 500 Milliarden. Das jährliche Steuereinkommen beträgt 10 Billionen! Bist du reicher als die KP? Wenn man all deine gerechten und unabhängigen Freunde zusammenzählt, kommt man vielleicht gerade mal auf mehrere 100.000 Stimmzettel. Wenn der von dir favorisierte Kandidat auf 100.000 Stimmen käme, wäre das schon nicht schlecht. Der einzige, der ein Gegengewicht zur KP darstellen könnte, ist Ma Huateng (6). Denn er könnte, wenn du dich auf QQ anmeldest, ein Fenster aufpoppen lassen, in dem steht: Wer mich wählt, erhält 500 Q-Dollar (7)! Ich schätze, dass er mit diesem Zug 200 Millionen Stimmen gewinnen könnte. Das Problem ist aber, dass Ma Huateng zu guter Letzt bestimmt der KP beitreten müsste. Demokratie ist ein komplexer, schwieriger und notwendiger gesellschaftlicher Prozess, und nichts, was mit Worten, die einem leicht über die Lippen gehen, wie Revolution, allgemeine Wahlen, Mehrparteiensystem oder dem Sturz von XY, zu erreichen ist. Was für einen Sinn hat es, sich für allgemeine Wahlen zu interessieren, wenn du dich noch nie um Rechtsprechung oder das Verlagswesen geschert hast? Das ist doch nichts als hippes Geschwätz! Das ist genau wie die Leute, denen, wenn es um Rennwagen geht, nur die Formel 1, oder, wenn es um Fußball geht, nur die Weltmeisterschaft einfällt.


Frage:
Ich glaube, dass Chinas Revolution und Demokratie nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts sind. Wann kommt dieser Zeitpunkt?

Antwort: Revolution und Demokratie sind zwei Worte, die man nicht gleichsetzen sollte. Eine Revolution kann nicht gewähren, dass auch Demokratie Einzug erhält, das haben wir doch schon ein Mal bewiesen, oder nicht? (8) Die Geschichte gab China Chancen, und die heutige Situation ist die Wahl unserer Großvatergeneration. Das heutige China ist der Staat auf der Erde, der am wenigsten Aussichten auf eine Revolution hat, aber gleichzeitig der Staat, der Reformen am dringendsten nötig hat. Wenn du aber unbedingt wissen möchtest, wann in China der richtige Zeitpunkt für eine Revolution gekommen ist, dann denke ich, dass man erst erleichtert revolutionieren kann, wenn die Leute auf den Straßen beim Autofahren ihre Fernlichter ausschalten. (9)

In so einem Land aber braucht man keine Revolution, der Bildungsstand der Bürger ist so hoch, dass sich alles ohne Zwang und wie von selbst regelt. Vielleicht wirst du noch eine gewaltige Reform dieses Landes erleben, vielleicht aber bist du bis zu deinem Tod eine in diesen unauflösbaren Knoten verknäuelte Faser. Nichtsdestotrotz, bitte denk immer daran, das Fernlicht auszuschalten, wenn du auf ein anderes Auto zufährst. Vielleicht werden unsere Söhne und Töchter dann genau deswegen etwas früher das erreichen, was unsere Väter verfolgten.

_____________________

(1): Tencent QQ ist der meistverbreitete, kostenlose Instant-Messaging-Anbieter Chinas.

(2): Sina Weibo ist der größte chinesische Mikroblogging-Dient.

(3): Gemeint ist die buddhistische Sekte „Weißer Lotus“, die von 1796 bis 1804 im Gebiet des heutigen Sichuan gegen den Qing-Kaiser rebellierte.

(4): Der Taiping-Aufstand gilt mit etwa 20 Millionen Toten als opferreichster Bürgerkrieg der Menschheitsgeschichte. Er ereignete sich von 1851 bis 1864.

(5): Gemeint sind Internet-Kommentatoren, die von offizieller Seite angestellt werden, um durch Propaganda im Netz die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die 50 Cent stehen ironisch für ihre Vergütung.

(6): Der Gründer des IT-Unternehmens Tencent.

(7): Eine virtuelle Währung der Firma Tencent, mit der Online-Produkte erworben werden können.

(8): Hier bezieht sich Han Han auf die Xinhai-Revolution, die 1911 das Kaiserreich stürzte. Anschließend versank China bis zur Ausrufung der Volksrepublik 1949 fast durchgehend in Bürgerkriegswirren.

(9): Das Autofahren mit angeschaltetem Fernlicht selbst bei Gegenverkehr gilt als ein Übel auf Chinas Straßen. Han Han sieht diese Marotte als Indiz für unzivilisiertes Verhalten und deren Ende im Umkehrschluss als Superlativ der Zivilisation.

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3 Antworten zu Han Han über Revolution: Erster Teil einer kontroversen Aufsatzreihe des chinesischen Freiheits-Idols

  1. avatar hanna sagt:

    Ich habe eine Frage zur Ãœbersetzung von „文化人“, wenn ich richtig informiert bin ist das ein Neologismus der Intellektuelle, musisch gebildete Menschen etc. zusammenfasst. Ist „Kulturleute“ eine gängige, anerkannte oder nur wörtliche Ãœbersetzung?

    lG,
    hanna

  2. avatar Maximilian Kalkhof sagt:

    Hallo Hanna,

    文化人 verstehe ich im Gegensatz zu 知识分子 als Praktiker, d.h. als Leute, die direkt mit der Kulturszene zu tun haben, da sie selber auf irgendeine Art Kultur schaffen, sei es Literatur, Film, Darstellende Kunst etc. In meinen Augen verwendet Han Han das Wort auch so. Also wählte ich „Kulturleute“. „Kulturschaffende“ wäre vielleicht auch möglich, entfernt sich aber weiter vom Ausgangswort. Antwort: Es handelt sich um eine sowohl sinngemäße als auch wörtliche Ãœbersetzung. Da wir es mit einem Neologismus zu tun haben, lässt sich schwer prüfen, ob sie „anerkannt“ ist.

    Gruß,
    Max

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