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Chinesische Dissidenten in unfreien Zeiten

Der aus Sichuan stammende Blogger Ran Yunfei erzählt aus dem Nähkästchen und beschreibt, wie schwierig es ist, ein Dissidentendasein im heutigen China zu führen. Der damit verbundene Druck belastet Freundschaften und Familie und endet oft in Zerwürfnissen, weil der Staat das gesellschaftliche Wertesystem so gründlich zerstört hat, dass jeder andere Vorstellungen davon hat, was richtig und was falsch ist. Der erste Teil von Ran’s Artikel wurde von Roman Serdar Mendle übersetzt.

 

Der Soziologe Sun Liping hat schon vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass Chinas Gesellschaft immer schneller zusammenbricht. Dem widersprechen einige Leute angesichts der chinesischen Wirtschaftsentwicklung. Aus ihrer Sicht braucht eine Gesellschaft nur dem oberflächlichen Anschein nach zu florieren, und schon lassen sie tiefer sitzende, gravierende Probleme unter den Tisch fallen. Als Kriterium für eine gesunde Gesellschaft ist die oberflächlich boomende, verzerrte Wirtschaftsentwicklung aber ganz offensichtlich nicht aufrichtig und fair, sondern einseitig und realitätsfremd. Was dabei am meisten für eine nervöse Grundstimmung in der Gesellschaft sorgt, ist die Tatsache, dass diese Gesellschaft und ihr grundlegendes Wertesystem schon lange nicht mehr von der Mehrheit der Menschen befürwortet wird.

Großsekretär Wang Xijue, der erkannte, dass auch damals die Einheit der Gesellschaft und Regierung sich zu spalten drohte, verwirrt den Beamten und Gelehrten Gu Xiancheng: „In solch korrupten Zeiten wie diesen, müssen die Menschen unter dem Himmel da nicht dem Urteil der Herrscher über Richtig und Falsch widersprechen?“ Gu Xiancheng antwortete geradeheraus: „Aus meiner Sicht, müssen die Herrscher immer dem Urteil der Menschen unter dem Himmel über Richtig oder Falsch widersprechen“[1]

Wie unterscheidet sich die späte Ming-Zeit eigentlich von unserer heutigen Zeit? Manche würden sagen, die Zeit der ausgehenden Ming Dynastie und die heutige Zeit sind absolut gleich. Das ist falsch und zu ungenau. Unsere Zeiten sind noch schlimmer als die Späte Ming Dynastie. Warum? In der Späten Ming Dynastie wurden zumindest nicht Menschen aus der gleichen Familie dazu angehalten, sich gegenseitig zu verraten, und mussten ihre zwischenmenschlichen Beziehungen nicht vor dem Staat geheim halten. Aber im heutigen China wurde das seit alles  seit 1949 zunichte gemacht. Mit anderen Worten: die Opposition der Massen gegenüber der Regierung in der späten Ming Dynastie war für jedermann offensichtlich, aber das Wertesystem der Menschen war noch nicht so verkommen, dass sie sich untereinander gehasst und einander misstraut hätten. Folglich waren die unterschiedlichen Wertvorstellungen der Menschen in der damaligen Zeit bei weitem nicht so gegensätzlich wie heute. Obwohl auch die damalige Regierung versuchte, Keile zwischen Ehepare und Geschwister zu treiben und das Herz des Individuums für das System zu gewinnen, war sie wie auch die heutige Regierung damit nicht vollständig erfolgreich. Aber diese Praxis, die Gesellschaft unter hohem Druck zu „atomisieren“ und die Menschen von einander zu isolieren, hängte damals wie heute einen hartnäckigen und nur schwer überwindbaren Schatten der Fragmentierung über die Gesellschaft. Deswegen sind auch Polizisten schon ängstlich und nervös, wenn sie ihre Familie anrufen und anderen Familienmitgliedern lediglich erzählen, sie kümmern sich gerade um „illegale Angelegenheiten“. Die vergangenen Jahrzehnte der Angst und Unterdrückung haben die Familien betäubt und eingeschüchtert. Man hofft nur noch, von Katastrophen verschont zu bleiben. Und wenn einen doch eine Katastrophe erwischt, hofft man nur, dass man stark genug ist, sein Schicksal zu ertragen, aber man kämpft nicht für die eigenen Rechte, man wehrt sich nicht. Noch schlimmer ist, dass die heutige Regierung, indem sie eine künstliche Informationsassymetrie schafft und verschiedene Leute unterschiedlichen Informationskanälen aussetzt, die Menschen hinsichtlich ihrer Werte voneinander trennt. Das ist im Vergleich zur der späten Ming-Zeit ungleich schlimmer.

Unter diesen schrecklichen Umständen und all der staatlichen Unterdrückung, Verfolgung und Bedrohung sind Dissidenten ängstlich und nervös. Wenn sie zusätzlich nur Unverständnis von ihren Familienmitgliedern ernten, dann laden sie schnell ihren Frust auf ihre Familie ab, was die ohnehin schon „feindselige“ Stimmung zwischen Familienmitgliedern noch verstärkt. Rückwirkend, wie ein Teufelskreis, verstärkt das unvermeidlich den Druck auf die Dissidenten, macht sie noch angespannter und ihr Zerwürfnis mit der Familie noch größer. Man wirft sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf und letztenendes zerbrechen Familien und Menschen.

 

In dieser schwierigen Notlage muss man sich gut um die Beziehungen zu Familie und Freunden kümmern. Das ist jedoch äußerst schwierig. Deswegen gibt es auch so viele respektable Leute, deren Leben durch diese bedrückende Kontrolle zerstört werden. Die, die die Gesellschaft kritisieren und für ihre Rechte kämpfen – insbesondere jene Personen, die nur das Gemeinwohl im Sinn haben- fühlen sich meist moralisch überlegen und stellen Ansprüche an Freunde und Familie gemäß ihren eigenen Maßstäben. Aber das führt oft zu gegenseitiger Kritik und zum Bruch mit Freunden und der Familie.

URL: http://ranyunfei.shoutem.com
http://twitter.com/ranyunfei

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[1] Der Autor führt diesen kryptisch anmutenden Dialog als Illustration dafür an, dass auch schon in der späten Ming-Zeit großer Dissens zwischen Regierung und Volk herrschte und die damaligen Umstände mit denen im heutigen China vergleichbar sind. Die Zitate sind im Originaltext auf Altchinesisch und an dieser Stelle daher sehr frei übersetzt. (Anm. d. Übers.)

Kategorien: Gesellschaft. Permalink.

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