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Vier Jahre nach dem Wenchuan Erdbeben – Ein kritischer Blick auf chinesischen Patriotismus

Am vierten Jahrestag des verheerenden Wenchuan Erdbeben, welches am 12. Mai 2008 fast 100.000 Menschenleben forderte, blickt der bekannte chinesische Blogger Li Chengpeng auf seine Erfahrungen im Erdbebengebiet zurück.
Er kritisiert falschen Patriotismus, nennt die zensierten Helden der Katastrophe und diskutiert wie China im Anblick einer so weitreichenden politischen und menschlichen Tragödie in die Zukunft schreiten sollte.


In jenem Jahr begannen die Rapsblüten erst einen Monat später als gewöhnlich zu blühen und dennoch wurden die Menschen nicht argwöhnisch. Damals glaubte man noch den Experten, die eine derartige Verspätung als normal erachteten und auch meinten, dass die [große Zahl von] Fröschen auf der Straße ganz normal sei. An jenem Tag schrieb ich in meiner Bibliothek gerade an einem Text, als die Erde zu beben begann. Zunächst dachte ich, dass es meine Hauskatze sei, die zu meinen Füßen Radau machte. Erst als die Bücher aus meinem vollen Bücherschrank zu fallen begannen, verstand ich, dass es ein Erdbeben war.

Ein Ruck ging durch das Gebäude, [draußen] neigten sich die Laternen und vom Horizont her schien ein seltsames Licht herüber. Diese ganzen Erscheinung waren alles andere als alltäglich und es schien als sei der Weltuntergang nicht mehr fern. Unter Einsatz meines Lebens sprang ich aus dem Gebäude. Der Erdboden schüttelte sich, als würde er gekocht und unzählige Hände schienen nach den Fersen [der Menschen] zu greifen [, um sie mit hinab zu ziehen]. Ich und einige Nachbarn hätten ohne weiteres in die Klüfte außerhalb unseres Wohnbezirks fallen können. Erst langsam begriff ich, dass die [über die Ufer getretenen Kanäle] Dujiangyan-Bewässerungssystems viele Menschenleben kosteten. Der Nordfluss verschloss bereits die ganze Straße und das gespendete Blut reichte bei Weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. Damals neigte sich meine Zeit als jugendlicher Patriot dem Ende zu und ich war noch der festen Überzeugung die Zeit des Dienstes für unser Land sei gekommen und wir müssten unser Fleisch und Blut geben, um eine neue große Mauer zu erbauen(1). An diesem Abend widmete ich mich dem Sammeln von Spenden und am nächsten Morgen ging ich mit Tang Jianguang und Zheng Chu [,meinen Freunden,] nach Beichuan.

In der Beichuan Diyi Zhongxue(3) wurde ich in eine der größten Verwirrungen meines Lebens gestürzt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum ein neugebautes, fünfstöckiges Wohnhaus beim Zusammenbrechen eine Fläche von der Hälfte eines Fußballfeldes bedeckte und ein vor einigen Jahrzehnten gebautes Gebäude noch nicht einmal in sich zusammenfiel. Auch konnte ich mir nicht erklären, warum das Gebäude so brüchig wie ein Keks war und in der Grundstruktur nirgendwo eine Stahlarmierung verwendet wurde. Nicht einmal die Schüler im Ergeschoss konnten aus dem Gebäude flüchten. Eine verheiratete Frau lief die ganze Zeit neben mir und wies mich mit nur noch leicht weinerlicher Stimme auf die nachlässige Konstruktion des Gebäudes hin: „Sehen Sie, dort ist mein Baby, seine Hand bewegt sich noch, es ist noch nicht gestorben, aber ich kann ihm alleine nicht heraus helfen…“ Dieser Anblick ging jedem durch Mark und Bein. Ich sah einen Zipfel des gescheckten Stramplers des kleinen Mädchens und weitere Kleidungszipfel anderer Kinder, einige von ihnen bewegten sich noch. Die Hilfstrupps befahlen uns, nicht zu den Kindern herüber zulaufen, da die brüchigen Ruinen uns nicht aushalten worden und ansonsten ein weiteres Mal zusammenbrächen. So sahen wir, wie die Kinder sich [in den Trümmern] noch leise regten, bis sie nach und nach so ruhig wie die Steine um sie herum wurden. Wir konnten ihnen nicht helfen.

 

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch ein patriotischer Jugendlicher und der Ãœberzeugung, alle Missstände im Leben würden von feindlichen Kräften ausgelöst. In einem Fußballkommentar hatte ich geschrieben: „Man muss den Dämonen ihre Köpfe mit großen Messern abtrennen, diese Kerle, die die chinesische Mannschaft hier zerschlagen haben, sind die Nachfahren der Verantwortlichen für das Nanjing-Massaker.“ Ich beschimpfte das CNN, indem ich sagte es hätte eine Maul- und Klauenseuche, da Jack Cafferty (CNN Foreign Affairs Korrespondent) gesagt hat, die Chinesen seien über die letzten Jahrtausende nur Pöbel und Müll(5) gewesen. Auch habe ich mich nicht gegen den Boykott von Carrefour gestellt, da ich dachte dies würde das demokratische Bewusstsein der Menschen wecken. Mein Haus ist von der US-Botschaft nicht weit entfernt, deswegen habe ich mich den auf die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Jahr 1999folgenden Protesten vor dem Konsulat angeschlossen. Als ich etwas früher im selben Jahr als Journalist in die USA reiste, schrieb ich „es scheint als ob eine Lenkrakete US-Territorium getroffen hat“ und war davon überzeugt, dass dies ein Satz von einer großen Aussagekraft war.

Jetzt stehe ich vor den Trümmern der Beichuan-Schule und bin völlig perplex. Immer noch beharre ich auf einigen ursprünglichen, patriotischen Ideen, aber ich beginne zu verstehen, dass die fehlende Stahlarmierung im Gebäude nicht Stück für Stück vom Imperialismus herausgezogen wurde und die ganzen Kinder auch keine Opfer der Tentakeln von [feindlichen] Invasoren geworden sind, sondern ihr Blut an unseren Fingern klebt. Was mich in noch größere Verwirrung gestürzt hat, ist die Frage, warum die Opfer des 11. Septembers 2011 alle Namen haben, während unsere Kinder keine Namen haben. Ich glaube, dass wir mit unserem Fleisch und Blut eine neue Große Mauer errichten müssen. Gleichzeitig muss diese Mauer aber auch unser Fleisch und Blut beschützen. Patriotismus muss immer zweiseitig sein, wenn nur eine Seite davon profitiert, handelt es sich nicht um Patriotismus, es ist sonst nichts mehr als eine Adelsloyalität.

Seit 2008 habe ich mich verändert. Sollte ich am Ende meines Lebens eine Autobiographie schreiben, so würde ich sie auf dem Jahr 2008 aufbauen, da ich davor ein Idiot war. In jenen Tagen aber betätigte ich mich jeden Tag mit anderen Freiwilligen in den Beichuan-Bergen und rettete einige ältere Menschen und Kinder. Unbewusst entdeckte ich eine Grundschule der Hoffnung(6), in der kaum Schäden zu beklagen waren, selbst die Fenster schienen nur mäßig beschädigt zu sein. Die Schüler haben am Ende [des Erdbebens] drei Berge überquert und sind aus den Bergen geflüchtet. Ich fragte den Schulleiter und das Lehrpersonal, wie es zu diesem Wunder hatte kommen können und sie antworteten, sie hätten das alles einem Vorarbeiter zu verdanken. Dieser Vorarbeiter kam von einer Stiftung, sei Pionier gewesen und habe während des Aufbauprozesses [der Schule] die Betonsäulen der Schule mit einem Hammer beschlagen und die Geräusche untersucht.. Aus den Geräuschen konnte er schließen, ob im Beton nicht zu viel Sand war und ob das Kieselsteinverhältnis und die Betongüteklasse nicht angeglichen werden müssten. Ergab sich irgendwo eine Unstimmigkeit, ließ er seine Arbeiter noch einmal von vorne anfangen. Die Lehrer erzählten mir, dass man in jenen Tagen außer den Baustellengeräuschen oft die Geräusche von Streitigkeiten zwischen diesem Vorarbeiter und den anderen Bauarbeitern hörte. Gestritten wurde sowohl um die Qualität [des Betons] als auch um Geld, dass man von der lokalen Regierung forderte. Dies resultierte aus der Tatsache, dass die Stiftung die Gelder zunächst an die lokale Regierung gab, die diese erst anschließend an die entsprechenden Arbeitsgruppen weiterleitete… Der letzte Streit beschäftigte sich mit der Frage des Sportplatzes und endete nach erfolgreichen Geldforderungen mit dessen Fertigstellung. Es war eben dieser Sportplatz, der zur Zeit des großen Erdbebens mehreren hundert Kindern Unterschlupf bot.

Ich fragte, ob beim Bau dieser „Hoffnungsgrundschule“ mit besonderen Standards gearbeitet wurde, um sie besonders stabil zu machen. Der Vorarbeiter antwortete: „Nein, wir haben sie ganz nach den gewöhnlichen Baustandards des Landes errichtet.“ Ich müsse auch wissen, dass er insgesamt fünf Schulen errichtet hat und davon keine einzige zusammengestürzt sei. Weiterhin sagte er mir: „Es gibt keine Wunder. Alle sogenannten Wunder resultieren aus der Tatsache, dass man bei der Errichtung dieser Gebäude vor zehn Jahren daran gedacht hat, was zehn Jahre später passieren könnte.

Er konnte in den Hauptmedien nie berichten, sein Name wurde nirgendwo veröffentlicht und er betonte im Nachhinein immer wieder, dass seine Firma in dreckige Geschäfte verwickelt ist. An einem Abend vor zwei Jahren rief er bei mir an und sagte mir, dass er gerade von einem Psychiater behandelt worden sei und ihn seine Frau auch verlassen habe. Er wolle mit einem Mädchen gemeinsam aus Sichuan flüchten und diesen für ihn gefährlichen Ort verlassen. Er wollte wissen, ob ich ihm nicht helfen könne im Norden einen Job zu finden… Danach haben wir den Kontakt abgebrochen.

Seit 2008 habe ich mich verändert. Wenn ein Mensch zum ersten Mal auf ein Übermaß von zu Unrecht zu Tode gekommenen Menschen trifft, wird er sich unter allen Umständen verändern. Meine Verwirrung hielt vier Jahre an: Wir können nicht nur nicht die Namen unserer zu Tode gekommenen Kinder veröffentlichen, sondern haben auch keine Möglichkeit den Namen des Vorarbeiters zu nennen, der so viele Menschenleben gerettet hat. Heute ist der vierte Jahrestag des Wenchuan-Erdbebens und ich [sehe es als meine Pflicht] heute hier seinen Namen zu veröffentlichen: Gou Yandong.

In letzter Zeit ist es zu einem Trend geworden über Patriotismus zu sprechen. Man sollte nicht so beschränkt sein und Patriotismus allein als Mut im Kampf gegen äußere Feinde verstehen. Vielmehr ist Patriotismus Mut im Kampf gegen Banditen im Inneren (des Landes). Das heißt, wenn ihr euer Dorf(7) liebt, dann solltet ihr das nicht nur im Kampf mit anderen Dörfern um gestohlene Wasserquellen zum Ausdruck bringen, sondern euch vielmehr in normalen Zeiten darum bemühen, eure Felder fleißig und gewissenhaft zu bestellen, eure Ressourcen zu schützen und eure Frauen nicht zu vergewaltigen… Auf der einen Seite die Menschen in eurem Dorf zu quälen und auf der anderen Seite den Reichen aus anderen Dörfern das Geld zu stehlen ist kein Patriotismus, das ist schlichtergreifend der beste Weg, um zu einem Familiennagel(8) zu werden.

Deswegen bin ich der Ãœberzeugung, dass Gou Yandong ein wahrer Patriot ist. Er hat weder das Scarborough-Riff, noch die Diaoyutai-Inseln angegriffen, aber vielen Menschen das Leben gerettet. Er sollte viel mehr Menschen bekannt gemacht werden, aber die Bühne, auf der er seinen guten Ruf verbreiten könnte, wird bereits von Lügnern und Betrügern besetzt. Meine Erfahrungen während meines einmonatigen Aufenthalts im Katastrophengebiet haben mich gelehrt, dass dort tausende Betrüger herum rennen, die im falschen Sonnenlicht glänzen und sich gerade nach vorne bewegen [ohne sich um die Menschen in ihrer Umgebung zu kümmern], um sich in Berühmtheit baden zu können… Unser ach so geliebtes [Vater-]Land kämpft jetzt gegen die Guten, propagiert die Schlechten und massakriert die Wahrheit. Wenn der Patriotismus eines Landes ein paar Lügner als Helden darstellt, dann ist dieser Patriotismus selbst nur eine Lüge.

Am Nachmittag des 13. Mai 2008 gab es wieder ein starkes Nachbeben und wir erhielten den Befehl uns zurückzuziehen.Nachdem wir uns einige Kilometer bis zum Eingang der Berge zurückgezogen hatten, traf ich plötzlich den CCTV-Reporter Zhang Quanling, der sich gerade bei Dreharbeiten für die Sendung Shikong Lianxi befand und mein von Regenwasser benetztes Antlitz wurde von der Kamera aufgefangen. Als ich gerade aus den Bergen heraus war, rief mich ein für seine Großherzigkeit bekannter CCTV-Journalist an und sagte: „Da hast du Arsch dich ja wieder schön profiliert, wie kommst du ohne Grund nach Beichuan und drängst dich vor unsere Kamera?“ Ich antwortete ihm: „Fick deine Mutter!“ Seitdem war unsere Freundschaft beendet. Als ich eine Woche später nach Beijing zurückkehrte, traf ich auf einen berühmten freundlichen und gerechten „großen Bruder“ von CCTV. Als wir begannen über die Tofu-Gebäude (9) [der Gebäude] zu sprechen sagte ich: „Einige von diesen gierigen Beamten sollte man glatt hinrichten.“ Er blickte mich mich eindringlich an: „Nein. Die Dinge in China müssen sich langsam entwickeln, sonst enden sie in Chaos. Schließlich brauchen wir sie für den Wiederaufbau.“

Drei Jahre später kritisierte ich unvorsichtigerweise Ni Pings „Rückgrat der Volksrepublik“(10) und der oben genannte freundliche und gerechte Bruder sagte mir am Telefon: „Was hast du hirnrissiger Ochse damit bezweckt Schwester Ni zu kritisieren? Sie ist ein guter Mensch.“ Als ich auf der Buchmesse in Hongkong Yu Dan und Yu Qiuyu ins Lächerliche zog, rief mich dieser freundliche Bruder ein weiteres Mal an: „Ich hätte nicht gedacht, dass du dich in all den Jahren zu einem solchen Menschen hast entwickeln können. Pengcheng, wir können nicht nur Dinge einreißen und keine neuen aufbauen und wir können genauso wenig alles, was die Regierung macht, verurteilen.“

Ich habe diesen freundlichen und gerechten Menschen immer in dieser Art bewundert. Jetzt leben wir in anderen Welten und haben sämtliche Verbindungen abgebrochen. Seine wohl gespielten oder ganz der Welt der Schauspielerei angehörigen Gerechtigkeitsideen finden sich jetzt überall auf Weibo, scheinen wie Sterne im Himmel und werden von Fans angebetet. Andere, ihm sehr ähnliche Patrioten sagen: „Egal ob unser Land nun diese oder jene Probleme hat, wir müssen es dennoch lieben.“ Für mich ist das Idiotie: Ich kann dieses Land lieben, aber ich kann keine Regierung lieben, die die Konstruktion von Tofu-Häusern zulässt. Noch weniger kann ich die Beamten lieben, die der Schule eine Tofu-Konstruktion verkaufen und sich selbst die strahlendsten Bürogebäude errichten.

Ich glaube, dass ich selbst immer noch ein Patriot bin, aber seit der Olympiade 2008, dem Milchskandal und insbesondere dem Wenchuan-Erdbeben, hat sich meine Definition des Wortes Patriotismus geändert. Patriotismus ist es gewiss nicht zu sagen, dass die Ausländer uns berauben, während wir selbst die Ressourcen unserer Landsleute ausplündern. Patriotismus ist es auch nicht unsere Nachbarn für unsere Erdölknappheit verantwortlich zu zeichnen und [gleichzeitig] die Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform auszusenden, um die Preise immer weiter anzuheben. Patriotismus ist es [erst recht] nicht einerseits auszurufen, dass Banditen unsere Mutter (gemeint: unser Vaterland, A. d. Ãœ.) nicht quälen dürfen und andererseits während des großen Erdbebens sehr viele Mütter zu schikanieren. Sie sehen die sich noch bewegenden Hände ihrer Kinder [in den Trümmern] und können dennoch nichts ausrichten. An jenem Tag habe ich ein sehr patriotisches Kommentar auf Weibo gesetzt: „Patriotismus ist nicht, ein Stück privates Land zu besitzen, sondern dieses mit seinem Leben zu beschützen. Ähnlich ist es, wenn man nicht die geringsten Spareinlagen auf einer Bank besitzt und aber dennoch posaunt, man würde diese bis zum letzten Atemzug verteidigen… Ãœberdies wissen wir derzeit nicht, wo die Banditen überhaupt sitzen und ob uns der Sicherheitsdienst der Bank nicht vielleicht als solche betrachtet.

Diese Weibonachricht hat die Gefühle vieler Patrioten verletzt, die mich nach und nach als Vaterlandsverräter beschimpften. Auch diesen Satz finde ich unlogisch. Die normalen niederen Kader besitzen kaum mehr als 100 Millionen RMB und sie nehmen auch nicht an „internationalen Treffen“(11) teil. Dennoch würden sie sich kaum trauen, sich selbst als Verräter zu bezeichnen. Weiterhin sagen sie ich gehöre zur „Straßenrandpartei“(12). Ich besitze allerdings weder eine „Greencard“ (13), noch fahre ich meine Kinder im Ferrari zu ihrer Eliteschule und ich besitze auch nicht zahlreiche Immobilien in den Staaten. Mit welchem Recht zählt ihr mich zur „Straßenrandpartei“? Weiterhin ist es egal, wie oft unsere Mutter (s. Anmerkung oben) auf uns geschimpft hat, sie war es, die uns in die Welt gesetzt hat. Gerade eben kam mir der Patriot Qu Xiao in den Sinn: Zum Teufel, habt ihr jemals eine leibliche Mutter gesehen, die ihre Kinder derart hasserfüllt angeht?

Ich habe absolut nichts dagegen, wenn wir um das Scarborough-Riff kämpfen, aber ich kopple es an die Bedingung, dass wir auch gegen die Diebe [gemeint sind gierigen Parteikader] [in unserem Land] vorgehen. Die Logik der Patrioten ist allerdings: „Um die Diebe zu bekämpfen, kann man der Regierung ruhig etwas Zeit einräumen. Das Scarborough-Riff hingegen müssen wir direkt einnehmen.“ Hierzu habe ich nur eine Erklärung: Viele Verbrecher versuchen unter Vorschieben des Scarborough-Konfliktes selbst aus dem Netz des Gesetzes zu entweichen. Gerade ist mir [wieder] Mei Siping aus der Bewegung des vierten Mai eingefallen, der als falscher Patriot das Haus des [pro-japanischen] Cao Rulin in Brand setzte, aber später an der [von den Japanern manipulierten] neuorganisierten Regierung der Republik China teilnahm.

In diesem Wettrennen, bei dem man mit Muskelspielchen seine Liebe für das Vaterland zu beweisen sucht, ist es schwer zu sagen, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Um die Wahrheit zu sagen: Die tatsächliche Macht Chinas hat in den letzten dreißig Jahren einen großen Fortschritt gemacht, zumindestens ist es in der letzten Zeit unwahrscheinlicher geworden, dass die japanischen Dämonen an unsere Türe klopfen werden. Deswegen lässt sich das Verhalten der Gerechtigkeitsarmee [in den auf die japanische Invasion 1931 folgenden Jahren], die um Mitternacht japanische Bunker in die Luft sprengten in die Klasse der unter Hypnose hervorgerufenen Heldenfantasien einordnen. Lasst uns doch über pragmatischen Patriotismus reden: Patriotismus ist weniger Korruption und mehr Stahlarmierungen während dem Schulbau für Kinder. Patriotismus ist auch der Verzicht auf den Bau von luxuriösen Regierungsgebäuden(14) und das Errichten von ökologischeren Höfen. Patriotismus ist weniger Maotai zu trinken und mehr wahre Worte auszusprechen. Patriotismus ist weniger falsche Helden zu propagieren und den Namen der Toten mehr Bedeutung einzuräumen. Patriotismus muss es Menschen erlauben frei in ihrem Land herumzuziehen und zu studieren. Stattdessen muss man [in China] alle „fünf Bürgerrechte“ besitzen, um in Beijing studieren zu können. Patriotismus ist keine Liebe gegenüber einem autoritären Staatsapparat, sondern die Liebe gegenüber gemeinsamen Werten… Wichtiger als ein riesiges Territorium zu beschützen, ist es, mit Würde durchs Leben zu gehen.

Kleine Inseln wie das Scarborough-Riff könnten unter wenigen Schüssen aus den chinesischen Kanonen in Stücke brechen und das Wiederanbinden des verlorenen Territoriums wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Um das Ansehen der chinesischen Armee zu bewahren, müssen emotional schwer belastete Orte wie Wenchuan mit ihren abertausenden [verlorenen] Seelen in Zukunft vermieden werden, um die Regierung nicht unter den Erwartungen der Menschen zusammenbrechen zu lassen.

Ich bin ein Patriot, deswegen ist es mir wichtig, ob der Name einer kleinen Insel zu unserem Territorium hinzugefügt wird. Dennoch ist es mir wichtiger, dass die richtigen Namen der Zehntausenden, die [im Erdbeben] ihr Leben gegeben haben, ihren Weg auf das Denkmal für die Erdbebenopfer] finden können. – Dies ist das Ende dieses patriotischen Blogs vom 12. Mai 2012.

 

Video zu einem Musikprojekt im Erdbebengebiet.


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(1) Zitat aus der Nationalhymne der Volksrepublik China.
(2) Beichuan ist die dem Erdbebenzentrum nächste Stadt.
(3) Die Schule, in der er Hilfsarbeiten leistete.
(4) Der Autor war früher Fußballkommentator.
(5) Im Original „Goons & Thugs„.
(6) „Schule der Hoffnung“ ist eine Bezeichnung für Schulen, die durch Spendengelder und Stiftungen finanziert worden und den Kindern einen ungehinderten Zugang zur Bildung ermöglichen sollen.
(7) Das Wort „Dorf“ darf als Metapher für anderer Länder verstanden werden.
(8) Im feudalen China war das Wort „Familiennagel“ ein Bezeichnung für Schläger und Despoten, die von einem Grundherren zur Wiederherstellung der Ordnung in einem Gebiet ausgesandt wurden.
(9) Der Ausdruck „Tofu“-Gebäude bezieht sich die Häuser im Erdbebengebiet, die auf Grund ihrer schlechten Bauweise wie Tofu in sich zusammenfielen.
(10) Ein Preisshowfomat, bei dem die Preise für 9800 RMB käuflich sind.
(11) Eine oft genutzte Ausrede, um außerplanmäßigen Urlaube als „Dienstreisen“ abzurechnen.
(12) „Straßenrandpartei“: abfällige Bezeichnung für Chinesen, deren Gedankengut verwestlicht wurde. Das Wort drückt aus, dass die betroffenen Personen die ersten wären, die fremde Invasoren durch das Land führen würden.
(13) Aufenthaltsgenehmigung für die USA.
(14) Bilderreihe mit einem Beispiel für ein luxuriöses Regierungsgebäude in China, gebaut auf der Grundlage des Weißen Hauses (→ Projects → Public Architecture → sechstes Bild).

 

Zum Weiterlesen:

Four years after the Quake„, Sichuan Quake Relief, 12.05.2012 (englisch)

Sichuan Earthquake fourth anniversary„, Hua Dan, 12.05.2012 (englisch)

 

Bilder: Viviane Lucia Fluck

 

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2 Antworten zu Vier Jahre nach dem Wenchuan Erdbeben – Ein kritischer Blick auf chinesischen Patriotismus

  1. avatar Maria Ingwer sagt:

    Es gibt ein kleines Missverständnis in der Ãœbersetzung. Nämlich in dem Satz „dass die [über die Ufer getretenen Kanäle] Dujiangyan-Bewässerungssystems viele Menschenleben kosteten. Der Nordfluss verschloss bereits die ganze Straße „. „Dujiangyan“ ist hier ein Ort, welches nach dem Dujiangyan-Bewässerungssysdem nominiert wird. In der Wirklichkeit wird dieses Bewässerungssystem, das vor mehr als 2200 Jahren gebaut wird, in dem Erdbeben fast gar nicht zerstört. „都江堰死了很多人,北川已封路了“ bedeutet eben: „Viele Menschen in Dujiangyan sind ums Leben gekommen, und die Straßen in Beichuan werden gesperrt.“

  2. avatar Florian Jung sagt:

    Vielen Dank für den Hinweis! Da ist mir damals beim Übersetzen ein Fehler unterlaufen. Wir werden den Satz so schnell wie möglich verbessern! Danke für Ihre Initiative und ein schönes (Rest-) Pfingstfest!

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