Print Friendly, PDF & Email

Der Vater des Pinyin: Rückblick auf 106 Lebensjahre in China

Zhou Youguang gilt als „Vater des Pinyin“. Vor mehr als fünfzig Jahren hat er die lateinische Umschrift für das Chinesische entwickelt.
Am 13. Januar 2011 ist er 106 Jahre alt geworden.
Die chinesischen Ausgabe der Financial Times veröffentlichte kürzlich ein Interview mit dem Gelehrten. Dort spricht er über die Rolle der Intellektuellen in China, Demokratie und Globalisierung. Übersetzt von Jost Wübbeke.

 

Ma Guochuan (MGC): Sie sind 1906 geboren und haben die 4. Mai-Bewegung miterlebt. Sie hatte großen Einfluss auf die Intellektuellen. Wie hat die 4. Mai-Bewegung sie persönlich beeinflusst?

Zhou Youguang (ZYG): Nicht die 4. Mai-Bewegung hat die Intellektuellen beeinflusst, sondern die Intellektuellen haben die 4. Mai-Bewegung beeinflusst. […] Die Bewegung ist nicht plötzlich aufgetaucht, sondern ist schrittweise entstanden. […] Im Kulturbereich gab es die Forderung nach einer Landessprache, einem phonetischen chinesischen Alphabet, in der „die Hand schreibt, was der Mund spricht“. Diese neuen Gedanken haben sich allmählich über ganz China ausgebreitet. Am 4. Mai 1919, ausgelöst von der japanischen Invasion, brauste die Bewegung plötzlich zu einer nationalen Bewegung zur Bewahrung vor dem Untergang auf […] Zur Zeit der 4. Mai-Bewegung beendete ich grade die Grundschule und folgte dem Lehrer zu den Vorträgen in den Teehäusern. Ich war klein, die Leute in den Teehäusern sahen mich nicht. Ein Gast nahm mich, auf dem Tisch vortragend, auf seine Arme. Das gesamte Teehaus war in Aufruhr. […]

 

MGC: Zur Zeit der 4. Mai-Bewegung kam der Radikalismus nach China. Insbesondere in den 30ern und 40ern tendierten viele Intellektuelle nach „links“. Was ist der Grund dafür und welche geschichtlichen Lehren kann man daraus ziehen?

ZYG: Alle waren gegen die Diktatur der Guomindang. Die Kommunistische Partei propagierte die Demokratie, daher wendeten sich die Intellektuellen nach „links“ […] Zhou Enlai sagte oft, dass die KPCh die Demokratie will […] Damals hielt das jeder für bare Münze.

 

MGC: Nach der Staatsgründung wollte Mao Zedong die alten Intellektuellen umformen.

ZYG: Mao Zedong „neigte sich zu einer Seite“, der Sowjetunion. Die Sowjetunion lehnte Intellektuelle ab, so tat es auch China. Sie nannten es „Umformen“ und meinten „Auslöschen“. […]

 

MGC: Warum trafen die Intellektuellen nach 1949 auf so viel Not? Wie bewerten sie diesen Teil der Geschichte als ein Intellektueller, der aus dieser Zeit kommt?

ZYG: Heute sagen die Gelehrten in der KPCh über die Not der Intellektuellen: das kam aus der Sowjetunion. Die Historiker meinen: die Sowjetunion ist ein Irrtum in der Geschichte Russlands. „Nach einer Seite neigen“ war der geschichtliche Irrtum Chinas. Will man fortschreiten, muss man erst von seinen Irrtürmern zurücktreten.

 

MGC: Heute bewertet man die 80er relativ positiv. Manche sagen, es sei die „zweite Aufklärung“ nach der 4. Mai-Bewegung. Wie sehen Sie die 80er?

ZYG: Die Reformperiode war besser als die Jahre unter Mao Zedong. Die Wirtschaft wurde reformiert, aber nicht die Politik. Ausländische Gelehrte sagen, die Gesellschaftsstruktur Chinas habe schon den Zustand zu der japanischen Meiji-Restauration erreicht. Halb feudalistisch, halb kapitalistisch. Wenn China Japan folgen will, muss es noch einen weiten Weg gehen.

 

MGC: Der Begriff „Intellektueller“ kommt aus dem Westen. In der chinesischen Geschichte findet man diesen Begriff nicht. […]

ZYG: In den kapitalistischen Staaten […] habe ich nie von Diskussionen über Intellektuelle […] gehört. Sie bemühen sich, jedem Menschen eine universitäre Ausbildung zukommen zu lassen. Die amerikanische Mittelklasse stellt 80% der Bevölkerung dar, sie alle sind Intellektuelle. Sie haben Probleme der Bildung, nicht der Intellektuellen. […]

 

MGC: Heute ist die Gesamterscheinung der chinesischen Intellektuellen nicht gut. Manche gehen sogar so weit zu sagen, dass die Intellektuellen von heute […] von der Macht und den Interessen „gekauft“ wurden. Stimmen Sie dem zu?

ZYG: Ich denke nicht, dass sie „gekauft“ wurden. Zumindest die meisten nicht. Sie wagen nicht, die Wahrheit zu sagen, aber sie mögen es auch nicht, Falsches zu sagen. Sie haben „Mut zum Unmut, aber keinen Mut zur Äußerung“. Eines Tages, wenn die Redner nicht mehr für schuldig befunden werden können, werden sie ihre Meinungen ausspeien.

 

MGC: Vielfach werden die Intellektuellen des chinesischen Bildungssystem noch mehr kritisiert. Was halten Sie für die Probleme des chinesischen Bildungssystems?

ZYG: Die Reformpolitik hat die Naturwissenschaften, aber kaum Sozialwissenschaften eingeführt, wobei die Wirtschaftswissenschaften eine Ausnahme sind. Wenn wir einen Schritt weiter in den Reformen gehen wollen, müssen wir fortschrittliche Sozialwissenschaften einführen, inklusive der Erziehungswissenschaften – dann wird sich die Situation ändern. Wissen ist grenzenlos, die Intellektuellen sind es auch

 

MGC: Was ist der Unterschied zwischen den heutigen Intellektuellen und den antiken „Gelehrten“?

ZYG: Im alten China gab es nur traditionelles Wissen. Der „Gelehrte“ betätigte sich vor allem als Beamter […] Die heutigen Intellektuellen wollen sowohl das traditionelle Wissen Chinas, als auch das internationale, moderne Wissen. Der Wissensumfang und die Anstellungsmöglichkeiten haben sich wesentlich erweitert. In der Vergangenheit gab es nur wenige Intellektuelle, heute gehen die Studenten in die Millionen. […]

 

MGC: Welche Beziehung sollte zwischen Intellektuellen und Politikern bestehen?

ZYG: Im Zeitalter der Globalisierung ist die Politik zu einer Wissenschaft geworden- die politische Arbeit ist die Arbeit des wissenschaftlichen Verwaltens geworden. Sie haben Religion und Dogmatismus überwunden. Wir wissen noch wenig über diese Veränderung. Um die Beziehung zwischen Intellektuellen und Politik zu verstehen, müssen wir erst die neue Situation im Zeitalter der Globalisierung verstehen.

 

MGC: Was ist der Unterschied zwischen chinesischen und westlichen Intellektuellen?

ZYG: Wenn die chinesischen Intellektuellen die gleiche fortschrittliche Ausbildung wie die ausländischen Intellektuellen genießen können, sollte es keine grundlegenden Unterschiede geben. Wissen ist grenzenlos, die Intellektuellen sind es auch […] Intellektuelle sollten Kosmopoliten sein […] Der aus der Sowjetunion stammende Auspruch „das Wissen hat Klassencharakter“ ist mit dem Untergang der Sowjetunion schon verschwunden.

 

MGC: Mit was sollten sich Intellektuelle im heutigen China befassen? Was für einen Geist sollten sie heute haben?

ZYG: Im Zeitalter der Globalisierung sollten sie dem wissenschaftlichen und demokratischen Fortschritt folgen. Wollen Sie unabhängig denken, müssen sie den geschichtlichen und neuen Prozess der Globalisierung verstehen. Intellektuelle sollten einen unabhängigen Charakter haben. Wissen ist die Triebkraft menschlichen Fortschritts. Die Intellektuellen dienen sowohl der Bourgeosie als auch dem Proletariat. Sie sind weder Sklaven der Bourgeosie noch Tyrannen des Proletariats. […]

 

MGC: Denken Sie, dass die Zahl der Intellektuellen, die Wissenschaft und Demokratie hochhalten, groß ist?

ZYG: Ja, sehr groß […] Aber, sie schweigen. Sie sind weise in ihren Worten und spielen auf Sicherheit.

 

MGC: Heutezutage meinen einige Intellektuelle, dass es ein „chinesisches Modell“ gibt. Wie denken Sie?

ZYG: Ich habe von zwei Antworten gehört. Die eine meint, China habe mit der Umsetzung der Marktwirtschaft Erfolg gehabt, Vietnam ahmt China nach und hat auch Erfolg. China ist das Modell „von der Plan- zur Marktwirtschaft“. Die andere lautet, die USA gehen unter und China wird die USA als globales Modell ersetzen. Wenn es jedoch niemand nachahmt, dann gibt es auch ein solches Modell nicht. […]

 

MGC: […] Ist die Integration der Europäischen Union erfolgreich oder gescheitert?

ZYG: Westeuropa hat nach dem Chaos zweier Weltkriege das Bedürfnis nach Ordnung gehabt. Da ist die Integration der EU ein großartiger Erfolg. Die EU ist eine neue Entwicklung des demokratischen Systems und schreitet weiter voran. Wenn die asiatischen Touristen die französischen und deutschen Bürger Fragen: „Würdet ihr noch einen Dritten Weltkrieg führen?“ Antwort: „Nein.“ Nachfrage: „Warum?“ Antwort: „Früher sind beide Staaten auf der selben Straße gefahren: du fährst auf der linken Fahrbahn, ich auf der rechten – und: Bumm! Jetzt fahren alle auf der rechten Seite, da kommt es nicht mehr zu Unfällen.“

 

MGC: […] Manche meinen, China braucht noch 30 weitere Jahre, um eine Demokratie realisieren zu können. Müssen wir wirklich nochmal dreißig Jahre warten?

ZYG: Dreißig Jahre sind nun wirklich nicht lang, China hat eine Geschichte von 5000 Jahren!

 

MGC: […] Manch junge Leute hegen relativ heftige nationalistische Gefühle. Sie als über Hundertjähriger, der die unterschiedlichsten Seiten des Lebens miterlebt haben, könnten sie der jungen Generation von Chinesen etwas dazu sagen?

ZYG: […] Im Zeitalter der Globalisierung müssen wir aus der Sicht der Welt China sehen und nicht aus Sicht Chinas die Welt.

 

Kategorien: Politik. Permalink.

Ist Ihnen dieser Beitrag eine Spende wert?
Dann nutzen Sie die Online-Spende bei der Bank für Sozialwirtschaft oder über PayPal.
Sicher online spenden über das Spendenportal der Bank für Sozialwirtschaft(nur Überweisung über 1 Euro.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.