Was ist bloß mit Han Han los? Einst als Enfant Terrible der chinesischen Jungintellektuellen gefeiert, sieht er sich heute ständig mit dem Vorwurf konfrontiert, regierungskonform zu sein. Auch im zweiten Teil seiner Blogtrilogie stellt er jede Menge steile Thesen auf. Letzten Endes widerspricht er sich aber häufig selbst und hinterlässt mehr Fragen als Antworten. Ist es nicht unfair, allen Chinesen pauschal Unkameradschaftlichkeit zu diagnostizieren? Und fällt Demokratie nun vom Himmel oder nicht? Übersetzt von Maximilian Kalkhof.
Hier finden Sie die Ãœbersetzung des ersten Teils von Han Han’s im Dezember 2011 erschienenen Blog-Trilogie.
Ãœber Demokratie sprechen
Frage: Revolutionen müssen nicht unbedingt gewalttätig sein. Die Samtene Revolution ist ein perfektes Beispiel dafür.
Antwort: Ich glaube nicht, dass sich die Samtene Revolution in China ereignen könnte. Lassen wir mal die internationale Situation von damals und die Tatsache, dass sich die Bevölkerung ganz Tschechiens gerade mal auf die Hälfte von Peking beläuft, außer Acht. Ich glaube, dass sich die Samtene Revolution entschied, der Bildung des Volkes, der Nachsicht der Regierenden und der Führung der Gelehrten zu vertrauen. Erst die gemeinsame Kraft dieses Dreiklangs bildete die Samtene Revolution und ich glaube, dass nichts von diesem Dreiklang in China existiert. Du kannst nicht die perfekte Revolution im Mund führen, um damit eventuelle zukünftige, nicht perfekte Reformen zu widerlegen. Ich kann die Sympathien vieler chinesischer Gelehrter und Akademiker für die Samtene Revolution nachvollziehen. In ihrer Fantasie erwärmen sie sich ja an der Vorstellung, selbst in die Rolle von Vaclav Havel zu schlüpfen. Aber egal, ob sich in China eine gewaltvolle oder eine gewaltlose Revolution vollzieht, der Status und die Rolle der Gelehrten ist bei weitem niedriger als sie sich das vorstellen, von Führungsrollen ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass je niedriger der Bildungsstand des Volkes ist, die Gelehrten desto weniger gelten. Du darfst auch nicht mit einer wortwörtlichen Auslegung der perfekten Demokratie, der perfekten Freiheit und der perfekten Menschenrechte erklären, wie der chinesischen Realität zu entfliehen ist. Reformen und Demokratie sind ein Prozess, der ausgehandelt werden muss. Du kannst keine Hoffnung darauf setzen, dass die Regierenden nach dem Lesen einiger Bücher plötzlich Einsehen haben und dir alles schenken. Du kannst nicht täglich auf die Samtene Revolution hoffen. Selbst wenn du Vaclav Havel wärest und jedem Chinesen sofort einen Stimmzettel gäbest, hättest du keine Aussichten darauf gewählt zu werden. In Tschechien gibt es bis heute keine allgemeinen Wahlen. Meine Meinung ist ganz simpel: keiner von uns hofft, dass sich eine gewaltvolle Revolution ereignet. Es ist unmöglich, dass in absehbarer Zeit in China eine Samtene Revolution stattfindet. Es ist unmöglich, dass in China die perfekte Demokratie das Licht der Welt erblickt. Deswegen können wir nur nach und nach immer wieder ein bisschen mehr fordern. Es ist sinnlos in der Gelehrtenstube über Demokratie und Freiheit zu fantasieren bis wir ersticken. Veränderung ist der beste Ausweg aus der Gegenwart.
„Zahlt dir die Chinesische Regierung eigentlich Bestechungsgeld?“
Frage: Der Schluss, den du ziehst, ist, dass der Bildungsstand der Chinesen zu niedrig ist und sie deswegen nicht für Demokratie geeignet sind. Zahlt dir die Regierung eigentlich Bestechungsgeld?
Antwort: Ich weiß nicht, wie du zu diesem Schluss gekommen bist. Ich finde ich schreibe wirklich schon sehr verständlich. Bei der Demokratie geht es nicht darum, ob sie zu einem passt oder nicht. Früher oder später wird sie kommen. Ein niedriger Bildungstand des Volkes behindert die Demokratie nicht, bestimmt aber die Qualität nach deren Eintreten. Niemand hofft, dass wir eine Demokratie im Stil von Ruanda bekommen, auch wenn das keine echte Demokratie im weiten Sinn ist. Manchmal kommt sie langsam, manchmal kommt sie plötzlich. Vielleicht wird sie nicht so radikal sein, vielleicht nicht so komplett, vielleicht nicht so amerikanisch, vielleicht nicht so europäisch. Aber sie wird bestimmt noch zu deinen Lebzeiten kommen und rückblickend betrachtet wird sie vielleicht sehr unspektakulär daher gekommen sein.
Frage: Du meinst also, dass das Volk sich nur auf die Gnade der Regierenden und nicht auf den eigenen Kampf stützen kann?
Antwort: Natürlich ist es wichtig, den Regierenden Druck zu machen. Aber bedauerlicherweise ist die Kooperation der Regierenden noch wichtiger. Dafür braucht man Glück und Charakterstärke. Gegenwärtig sind alle Gesellschaftsschichten zersplittert. Auch wenn du noch mehr Lärm um das Zugunglück* machst, sind zum Beispiel die Regierenden nach wie vor gefasst. Sie halten das für eine Angelegenheit des Volkes, rühren nicht mal den kleinen Finger und denken, dass Zeit das Problem von alleine lösen wird. Die Familienangehörigen der Regierenden interessieren sich vielleicht kein bisschen für diese Angelegenheit, sondern nur dafür, wer aufsteigt und wer absteigt, wessen Alter noch nicht ausreicht und wie man die Position von XY zu ordnen hat. Trotz solch eines öffentlichen Drucks kann der Vorfall immer noch ganz natürlich vorübergehen. Noch wahrscheinlicher ist es, dass sie gar keinen öffentlichen Druck verspüren. Das ist als hättest du 1 Milliarde auf dem Konto und verlörest Eintausend. Natürlich wirst du da nicht nervös. (…) Sie denken einfach überhaupt nicht über deine Probleme nach. Viele Leute aus der Kulturwelt denken, dass sich alle Probleme auf die Systemfrage zurückführen lassen. So als ob alles leicht zu lösen wäre, wenn man das System änderte. Sie sind gut und gerecht, hassen das Böse abgrundtief und verlangen aber, dass Bauern und Arbeiter ihre Vorstellungen teilen. Oder sie denken gar, dass die ganze Welt Probleme auf ihre Weise zu betrachten habe. Aber die Realität enttäuscht einen immer wieder.
Da Rallyerennen** immer an abgelegenen Orten veranstaltet werden, war ich in den vergangenen Jahren in mehreren hundert Städten. Das waren alles keine besonders isolierten oder unfruchtbaren Orte. Ich unterhielt mich mit Hinz und Kunz und gewöhnlich war ihr Verlangen nach Demokratie und Freiheit nicht so dringend wie sich die Kulturleute das vorstellen. Ihr Hass auf Macht und Korruption resultierte eher aus einem: „Warum habe nicht ich oder meine Verwandten das alles bekommen?“. Ihnen geht es nicht um Kontrolle oder Ãœberwachung. Nur wenn sie selbst Pech haben und sich damit an die Obrigkeit wenden wollen, dann suchen sie aus ihren Wörterbüchern solche Worte heraus, um sich damit zu schützen. Sobald ihnen die Regierung Schadensgeld zahlt, sind sie zufrieden. Ein gesellschaftlicher Gegensatz, der sich mit Geld lösen lässt, ist eigentlich gar kein Gegensatz. Die Intellektuellen betrachten den Gebrauch solcher Worte in Notsituationen meist als durchgängige Forderung des Volkes, und denken dann, dass ein Konsens mit der Kulturwelt bestünde. Ich glaube nicht, dass es in einem Land mit so großen Differenzen und Rissen eine perfekte Revolution geben kann. Vielleicht glaubst du ja, dass das nur das Ergebnis der Domestizierung durch die Regierenden ist und dass man sie deswegen verändern muss. Aber die Realität ist schon so und ein bis zwei Generationen ticken bereits so. Aber glücklicherweise öffnen das Internet und die Medien schon mehr oder minder ihre Augen. Deswegen bin ich absolut nicht pessimistisch.
Die Kommunistische Partei (KP) hat heute 80 Millionen Mitglieder und verwandtschaftliche Beziehungen zu 300 Millionen Menschen. Sie kann nicht einfach als Partei oder Gesellschaftsschicht betrachtet werden. Oft sind die Schwächen des Volkes die Schwächen der KP. Ich glaube, dass ein starkes Einparteiensystem eigentlich einem Keinparteiensystem gleichkommt. Denn wenn die Struktur der Partei ein gewaltiges Ausmaß hat, dann ist sie das Volk, und das Volk ist das System. Das Problem ist also nicht, was wir mit der KP zu machen haben. Die KP ist nur ein Name, das System ist nur ein Name. Wenn wir das Volk ändern, dann ändern wir damit alles. Deswegen müssen wir unser Augenmerk auf Veränderung legen. Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Kultur, das ist das Fundament.
Chinesische Intellektuelle als neutrale Zaungäste der Revolution
Frage: Was für eine Rolle sollten einflussreiche Gelehrte spielen, falls es zur Revolution kommt?
Antwort: Wenn es soweit ist, sollten die Gelehrten Zaungäste sein, aber nach außen gewandte Zaungäste. Gelehrte brauchen ihre eigene Gerechtigkeit, aber sie dürfen keine eigenen Stehplätze haben. Je mehr Einfluss man hat, desto weniger darf man eine Position vertreten. Sobald man sieht, dass eine Partei erstarkt, muss man sich sofort den anderen zuwenden. Man darf absolut keiner Meinung glauben, keinem Glauben folgen, muss sich alle Revolutionäre als Schwindler vorstellen, darf keine Versprechen anhören und muss alles tun, um sicherzustellen, dass nicht eine Partei eine andere auslöscht und eine Monopolstellung erlangt. Sollte sich in China eine Revolution ereignen, dann werde ich bei den Schwachen sein. Sollten sie stark werden, werde ich zu ihren Gegnern überlaufen. Ich bin bereit meine eigenen Meinungen zu opfern, um die Koexistenz aller Parteien zu ermöglichen. Nur so erreichst du alles, was du verfolgst.
Frage: Ich war in einigen hoch entwickelten Ländern und habe nach intensivem Austausch festgestellt, dass der Mensch unter der Oberfläche der Bildung überall gleich tickt. Deswegen ist ein gutes System die Garantie für hohe Bildung.
Antwort: Ich stimme dir völlig zu. Aber über was wir reden ist oberflächliche Bildung. Du solltest oberflächliche Bildung nicht unterschätzen, nur weil du denkst, dass der Mensch privat so oder so sei. Die Qualität einer Demokratie wird von der oberflächlichen Bildung des Volkes bestimmt. Jemand schaltet vielleicht beim Autofahren das Fernlicht ab, ist, wenn er andere trifft, ausgesprochen höflich, befolgt soziale Tugenden, aber, sobald du enger mit ihm in Kontakt trittst, stellst du fest, dass er privat auch egoistisch, feige, engstirnig und gierig ist. Was ist schon dabei? Es ist sinnlos über Bildung in Paarung mit dem menschlichen Wesen zu reden. Das Wesen der Amerikaner unterscheidet sich kaum von dem der Chinesen, das Wesen aller Menschen auf der Erde nimmt sich nicht viel. Wir haben hier also ein Henne-Ei-Problem: kommt zuerst gute Bildung und danach ein gutes System oder folgt gute Bildung auf das gute System? Zweifelsohne sollte man aber ungeachtet des Bildungsstands ein gutes System sichern, wenn es zu Stande kommen kann. Denn ein System ist so unvergänglich wie ein De-Beers-Diamant. Es ist konkret, Bildung aber ist unbeständig. Das Problem ist, dass, wenn sich aus verschiedenen Gründen kein gutes System einstellt, wir nicht darauf hoffen können, dass es vom Himmel fällt. (…) Gute Bildung ist gar nicht mal notwendig, sie ist langsam und ohne Effekt. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ein gutes Systems und eine gute Demokratie eintreten können: die erste ist durch einen Gedenktag. Die zweite ist ohne ein konkretes Datum, aber das bedarf der Anstrengungen von ein bis zwei Generationen. Ich finde, wir sollten noch ein bisschen konkreter werden: Egal wie gut die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die amerikanische Verfassung oder die Zusatzartikel zur Verfassung sind, die amerikanischen Parteien und das amerikanische Volk haben das alles umgesetzt. Unsere Regierungspartei hat schon viele Erklärungen von sich gegeben, aber größtenteils nicht umgesetzt. Das reflektieren sie aber nicht, denn der Preis einer Revolution erscheint ihnen zu groß und zu unkontrollierbar, Veränderung geht ihnen zu langsam und der Bildungsstand des Volkes ist nicht hoch: das sieht wirklich nach einem unauflösbaren Knoten aus. Doch ich glaube nach wie vor an Veränderung. Eine gewaltvolle oder gewaltlose Revolution darf nur eine Spielmarke sein, die für Veränderung sorgt. Aber Revolution ist ja unmöglich.
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* Gemeint ist das Zugunglück, das sich am 23. Juli 2011 bei Wenzhou ereignete und bei dem 40 Menschen ums Leben kamen.
** Han Han ist Profi-Rallyefahrer.
Zum Weiterlesen:
• Erster Teil von Han Han`s Blogtrilogie „Über Revolution“
• Taz-Artikel über die Plagiatsvorwürfe gegen Han Han
Danke fuer die Uebersetzung!
Ich denke, mindestens an einer Stelle ist Han Han sehr inkosequent:
„Ich glaube, dass ein starkes Einparteiensystem eigentlich einem Keinparteiensystem gleichkommt. Denn wenn die Struktur der Partei ein gewaltiges Ausmaß hat, dann ist sie das Volk, und das Volk ist das System.“
Das koennte man so sehen, allerdings nur dann, wenn dem Beitritt der CCP nicht meist eine Gesinnungspruefung vorgeschaltet waere. Wenn Han HAn diesen Weg durch die Institutionen gehen moechte, waere die erste Forderung: Freier Zutritt in die CCP fuer alle Buerger.
So weit wird er aber nicht gehen, denn im Grunde scheint er jede grundlegende Veraenderung, die die Gesellschaft, in der er sich sehr gut zurechtfindet, auf gerechtere Grundlagen stellt, abzulehnen. Oder besser gesagt: Er moechte kein Risiko eingehen, dass irgend etwas schief geht. Diese Form der gesellschaftlichen Veraenderung ohne Risiko gibt es aber nur fuer „systemrelevante Medien-Stars“. Der einfache Mann muss sich schon mit etwas mehr Mut in dieser Sache engagieren.