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„Occupy Wallstreet“ und die Jasminblüte – Anlass zu demokratischen Reformen in China?

Kann man die Occupy-Bewegung in den USA mit den Revolutionen im Mittleren Osten und Nordafrika vergleichen? Kann sich die Bewegung lange genug halten, um etwas zu erreichen? Und was ist mit der chinesischen Jasminblüte, oder einer chinesischen Occupy-Bewegung? Diesen und anderen Fragen geht der chinesische Blogger Liu Xuewei* auf den Grund. Übersetzt von Daniel Soesanto.

Hat sich die Jasminblüte auch in den USA geöffnet?

Um diese Frage zu beantworten, muss man die Jasminblüte relativ präzise definieren. Wie jeder weiß, ist die Jasminblüte die Nationalblume Tunesiens. Gleichzeitig ist sie das Symbol der in diesem Jahr ausgebrochenen demokratischen Revolutionen in den arabischen Ländern des Mittleren Ostens. Also ist die Jasminblüte das Symbol der demokratischen Revolution. Verwendet man dies auf die USA, dann passt das wahrscheinlich nicht. Denn die USA sind eine etablierte, gereifte Demokratie und in der gegenwärtigen Situation ist es sehr unwahrscheinlich, dass es politische Veränderungen geben wird, die sich direkt auf das System auswirken.

Jeder weiß ebenfalls, dass den Revolutionen im Mittleren Osten zu Jahresbeginn allen eine mehrmonatige spontane politische Bewegung auf der Straße vorausgegangen ist. Von daher gesehen, gleicht die sich noch entwickelnde „Occupy Wall Street“-Bewegung in den USA wirklich ein bisschen der Jasminblüte im Mittleren Osten. Abgesehen davon haben die konkreten Bewegungen [allerdings] alle ihre eigenen Besonderheiten. In den Ländern des Mittleren Ostens wurden sie beispielsweise von gewalttätigen Zusammenstößen und Schüssen begleitet. In den USA habe ich noch nichts von solchen Erscheinungen gehört. Die Jasminblüte in den USA scheint sich offensichtlich zivilisierter zu öffnen. In den Ländern des Mittleren Ostens gab es Konflikte zwischen Regierung und Volk. In jedem Land sind Menschen gestorben, in einigen viele, und es kam sogar zu wirklichen Bürgerkriegen. In den USA ist natürlich noch niemand gestorben. Allerdings befinden sich schon mehr als 700 Polizeibeamte im Einsatz. Das hat durchaus etwas von einer „erzwungenen Stabilitätswahrung“. Die Bewegung in den USA geht bereits in die dritte Woche, scheint weiter zu wachsen und hat begonnen, sich auf andere amerikanische Städte und sogar Europa auszweiten.

In China kommt es erst gar nicht zu spontanten Versammlungen

Es gibt sogar Leute, die die amerikanische Jasminblüte mit der chinesischen vergleichen und sagen, dass Chinas Besonderheit sei, dass es präventive Maßnahmen ergreife und [die Jasminblüte] prinzipiell im Keim ersticke. So komme es erst gar nicht zu solchen spontanen Versammlungen und es mache den Anschein, als ob China sauber sei. Die amerikanische Jasminblüte fordert selbstverständlich nicht mehr Demokratie, sondern einen Ausgleich zwischen Arm und Reich. Die hauptsächliche Zielscheibe sind die VIPs der Wall Street und die grundlegende Forderung ist, dass die amerikanischen Finanzinstitutionen für die Folgen der weltweit grassierenden Finanzkrise Verantwortung übernehmen, aufhören großzügige Boni zu verteilen und mehr Steuern zahlen sollen. Es gibt also sogar in den USA Klassenkämpfe. Aber die Oberschicht steht unter gutem Schutz. Die Unter- und sogar Mittelschicht wollen auf die politische Situation Druck ausüben. Das ähnelt der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg in den 1960er Jahren.

Die Occupy-Bewegung wird sich nicht lange halten

[…] Ob [die Jasminblüte] wieder eingehen oder sich weiter öffnen wird, lässt sich jetzt noch nicht vorhersehen. Aber wenn man die Fakten zu Grunde legt, ist das Erstere wahrscheinlicher. Vermutlich wird [die Bewegung] noch einige kleinere Wellen schlagen, aber es wird wohl kaum eine wirkliche Großversammlung werden. Etwas genauer gesagt, ist die Finanzkrise in den USA nicht [so schlimm] wie einige Leute sagen […] und wird unabhängig von der Gesamtsituation in einigen Jahren vergangen sein. Das Wohl des Volkes und ebenso Amerikas Macht haben [jedoch] beträchtlichen Schaden genommen. Der Niedergang der Supermacht scheint schon fest zu stehen. Allerdings scheint dieser Schaden sich noch längst nicht auf das System auszuwirken. […] Bis heute ist das [politische] System tatsächlich noch stabil und macht bisher nicht den Anschein, dass es wirklich zusammenbrechen könnte. […] Vor 50 Jahren bestanden die Protestbewegungen aus mehreren hunderttausend Menschen. Auch damals hat das amerikanische System keinen wirklichen Schaden genommen. Vielmehr wurden die USA durch den Rückzug aus Vietnam und der Abschaffung der Rassentrennung wieder zum Leben erweckt. […] Ich glaube, dass die momentane Jasminblüte in den USA sich nicht so weit öffnen wird, weil das jetzige System noch ziemlich viel Spielraum hat, insbesondere weil seine Legitimität in den Köpfen der Amerikaner noch längst nicht aufgebraucht ist. In 20 Jahren, wenn die USA ihre Vormachtstellung in der Welt verloren haben, der US-Dollar nicht mehr die einzige Leitwährung ist, ihre Armee aus Südkorea und Japan verdrängt wurde und sich dann die Jasminblüte von neuem öffnet, werden die Aussichten nicht mehr so rosig sein wie heute und es könnte tatsächlich zu einer System-Krise kommen.

Erfolgsbilanz als Legimitätsquelle der chinesischen Regierung

Setzen wir das Thema nun in Kontext zu China. Dass sich die Jasminblüte in China noch nicht geöffnet hat, ist keine Sache, auf die man stolz sein sollte. Da die Systemtransformation in China bisher noch nicht vollständig ist, hat die Legitimität der Regierung von der Bevölkerung noch nicht genug Anerkennung erhalten. Wenn sich die Jasminblüte einmal öffnet, wird es nicht wie in den USA sein und nur auf Ebene des einfachen Volkes bleiben, sondern sich zügig auf die System-Ebene ausbreiten. Wenn die Reaktion der Behörden [auch nur] im Geringsten unangemessen erscheint, wird dies zu totalem Chaos führen. Sich bei der Stabilitätsbewahrung stets auf Zwang zu verlassen, ist kein nachhaltiger Plan. Es gibt Leute, die behaupten, die bisherige Erfolgsbilanz sei die Legitimitätsquelle der politischen Herrschaft in China und habe nichts mit Demokratie zu tun. Meiner Meinung nach, pauschalisieren wir [Chinesen] immer alles und lenken von unseren Fehlern ab. Gewiss gibt es Erfolge, aber selbst wenn, sind diese indirekt. Die prozedurale Legitimität der innerparteilichen Wahlen sollte [in das politische System] integriert werden. Ist ein demokratisches System [wie das in den USA], das nicht in Frage gestellt wird, nicht beneidenswert? […]

Chinas politische Zukunft – Demokratie mit mehr Rechten!

Ich stelle hier mal eine innovative Analogie her: Chinas System ist wie ein großer Tontopf. Stellt man ihn auf ein hohes Holzgerüst, besteht stets das Risiko, dass er herunterfällt. Was wir jetzt tun müssen, ist: den Tontopf vom Holzgerüst nehmen und ihn auf den Boden stellen. Oder einen großen Erdhaufen machen und das Holzgerüst dort [zur Stabilsierung] eingraben, so wird der große Tontopf wahrscheinlich nicht herunterfallen. In der liberalen Fraktion gibt es einige, die befürworten den Tontopf auf den Boden zu stellen. Der Topf ist [allerdings] groß und schwer, ihn vom Holzgerüst zu nehmen, ist wirklich riskant. Wenn man das nicht gut macht, könnte das Holzgerüst zusammenbrechen und der große Tontopf zerbersten. Deswegen geht meine Position (Demokratie mit mehr Rechten) eher in die Richtung des absichernden Erdhaufens und ist ein Kompromiss. Der Tontopf steht noch recht hoch und der Erdhaufen ist nicht sehr eben. Aber zumindest ist das Risiko, dass das Holzgerüst zusammenbricht und der Tontopf hinunterfällt, viel kleiner und der allgemeine Nutzen sollte größer sein. China hat noch eine gute Seite. Die nationale Situation scheint weiterhin im Aufstieg zu befinden. Die wirtschaftliche Entwicklung hat noch riesigen Spielraum. Die Systemtransformation könnte von dieser Entwicklung Unterstützung erhalten. Das westliche Amerika hingegen befindet sich im Niedergang. Jeglicher Wandel ist durch wirtschaftliche Prozesse beschränkt: flickt man hier, entsteht woanders ein neues Loch. Die Zukunft kann dieser Dynamik nicht entfliehen. (Das sage nicht [nur] ich, schaut in den Bericht von Goldman Sachs.)

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*Liu Xuewei lebt in Frankreich und ist promovierter Historiker.

 

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