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Rare Ware: Der Schwarzmarkt für Zugtickets zum Frühlingsfest

Jedes Jahr zum Frühlingsfest reist ganz China per Zug in die Heimat. Der  Kampf um die Tickets ist unerbittlich, stundenlanges  Anstehen bleibt trotzdem oft unbelohnt. Schwarzmarkthändler – für ihre Unnachgiebigkeit auch „Bullen“ genannt – verlangen Wucherpreise und sollen für die ungerechte Verteilung verantwortlich sein. Blogger „Sehr viel“ (Hen  Duo De) meint: das Problem sei die Drei-Klassen-Verteilung, bei der mit Zeit, Geld und Beziehungen gezahlt wird. Von Jost Wübbeke.

Immer zum Frühlingsfest werden die Verkäufer von Schwarzmarkttickets („Bullen“) zum unausweichlichen Thema. Kunden verabscheuen sie, weil man wegen ihrer Gier einige Taler mehr springen lassen muss. Die Leute, die keine Tickets mehr bekommen, machen die „Bullen“ auch dafür verantwortlich, weil sie ein zweites Verteilungssystem zugunsten der reicheren Kunden repräsentieren.

Die Schwierigkeit, während des Feiertagsverkehrs Tickets zu bekommen, liegt eigentlich an der begrenzten Kapazität des chinesischen Zugsystems zusammen mit der kurzfristigen Explosion des Fahrgastaufkommens. Kurzfristig lässt sich diese Diskrepanz kaum ausräumen. Wie auch immer man den Ticketverkauf anpasst, gibt es doch zwangsläufig immer eine Menge von Leuten, die zu der gewünschten Zeit keinen Zug bekommen. Dabei reden wir nie über die Verbesserung des chinesischen Eisenbahnsystems oder das Anschwellen des Passagieraufkommens während des Frühlingsfests als Gründe. Wir reden nur über „Bullen“-Tickets.

[…]Aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive handelt es sich bei den Tickets während des Frühlingsfests um eine knappe Ressource. Ganz offensichtlich führt das nicht zu steigenden Preisen – wie angespannt die Ticketsituation auch ist, die Tickets an den Verkaufsstellen haben immer den gleichen Preis – sondern zu „Vorzugsrechten beim Ticketkauf“. Das Vorzugsrecht ist knapp. Im Modell gedacht, ist das Vorzugsrecht des ersten Ticketkäufers unbeschränkt, weil er jedes Ticket kaufen kann, das er möchte – jeden Zug und jede Menge. Aber Nachzügler mit geringerem Vorzugsrecht haben weniger Glück. Wenn dein Vorzugsrecht ein gewisses Level unterschreitet, kannst du fast überhaupt kein Ticket mehr kaufen. Das Gut ist knapp, die Nachfrage groß. Der Kern des Problems liegt dann in der Verteilung dieses Gutes – nach welchem Prinzip soll bestimmt werden, wer zuerst kaufen kann?
Die gewöhnliche Art und Weise ist natürlich, sich in einer Reihe anzustellen. Wenn du vorne bist, bekommst du das Ticket, wenn du hinten bist, kriegst du vielleicht schon gar nichts mehr. Diese Methode richtet sich nach dem Prinzip der Vorrechts-Verteilung, kurz gesagt: „wer zuerst kommt, malt zuerst“. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ist die Zeit dann der Preis, den der Verbraucher für das Vorzugsrecht beim Ticketkauf „zahlt“. In vielen Situationen ist dieses Prinzip sehr angemessen und gerecht, weil die Zeit bei jedem gleich ist – unabhängig von Alter, Geschlecht, Ethnie, Reichtum, Macht. Aus dieser Perspektive entsteht der Hass auf die „Bullen“, weil sie dieses Gerechtigkeitssystem zerstören. Andererseits […] schaffen sie aber auch ein neues Verteilungssystem durch das mit Banknoten erkaufte Vorzugsrecht – zumindest haben sie gegenüber den Zeitkosten die Bedeutung des Geldes enorm aufgewertet. […]

Obwohl die Leute allgemein die „Bullen“ verfluchen, ist eines nicht von der Hand zu Weisen: Sehr viele Menschen profitieren von ihnen. Aus Sicht der Tauschgerechtigkeit, meinen die Leute, die „Bullen“-Tickets kaufen, dass es sich „lohnt“ […] Denn wenn du diesen Tausch von Geld gegen Vorzugsrecht nicht machst, kannst du in der gewünschten Zeit nicht den Zug nehmen. Aus einer Interessensicht spart man sich mit dem Aufpreis mühevolles Anstehen. Aber andere Leute können diesen Preis nicht zahlen, z.B. die Wanderarbeiter der Unterschicht. Für sie wäre es besser, eingehüllt in Baumwolldecken, die ganze Nacht vor der Verkaufsstelle zu warten oder ihre Abfahrtszeit zu verschieben […] Vor allem die Mittelschicht profitiert vom Schwarzmarkt. Sie können den Zusatzbetrag der „Bullen“ bezahlen und statt sich mühsam und langwierig anzustellen, zahlen sie auf jeden Fall lieber ein bisschen mehr Geld.
Die Oberschicht stört sich natürlich nicht an diesem Problem. Durch ihren politisch und bürokratisch bedingten Einfluss können sie das öffentliche Verkaufssystem umgehen: sie kommen über Beziehungen zu Tickets. So müssen sie weder Zeit noch Geld für das Vorzugsrecht bezahlen. Natürlich sind ihre Kosten schon Internalisiert und system-immanent. Sie stärken nämlich die Interessensverknüpfungen des persönlichen Netzwerks und sogar der gesamten Schicht.
Die Leidtragenden sind ganz klar die Leute der Unterschicht. Alles was sie für das Vorzugsrecht bezahlen können, ist Zeit. Und die „Bullen“ schaden direkt ihren Interessen. Diese Analyse zeigt, dass die Mittelschicht ohne die „Bullen“ unmittelbare Verluste erleiden würde. Sie würde nicht wie die Oberschicht über „Beziehungen“ an Tickets gelangen und auch nicht durch eine Erhöhung des Geldbetrages das Vorrangsrecht erkaufen können. Sie könnte sich nur wie die Unterschicht leidvoll anstellen. […] Deswegen würden vermutlich genau die Leute, den Bullen am meisten nachtrauern, die sich über sie beschweren .

Ich bin entschlossen gegen die „Bullen“ […], weil sie eine Ausbeutung der Unterschicht durch die Mittelschicht darstellen. Die Ausbeutung der Unterschicht ist schon ernst genug. Deswegen müssen wir dem Prinzip der „letzt-bevorteilten Klasse“ folgen.* Das System muss sich an den Leuten orientieren, die sich noch nicht einmal „Bullen“-Tickets leisten können. Aus dem gleichen Grund lehne ich den Vorschlag des „Internetverkaufs“ von Tickets ab. Natürlich ist die Unterschicht in der Verwendung solch moderner Anwendungen gegenüber der Mittel- und Oberschicht absolut benachteiligt. Ein Firmenmitarbeiter kann vielleicht während der Arbeitszeit mit ein paar Klicks auf die Maus ein Ticket kaufen, aber die Leute der Unterschicht, die das ganze Jahr auf den Baustellen schuften, wissen vielleicht noch nicht einmal wie viele Knöpfe eine Maus hat. Denk doch mal nach, bei so einfachen Dingen wie den Ticketautomaten in der U-Bahn kannst du täglich Leute aus der Unterschicht antreffen, die sie nicht benutzen können. […] Die implizite Bedeutung des „Internetverkaufs“ ist: Diese Tickets haben mit der Unterschicht nichts zu tun.

Wie soll man die Sonderrechte der Oberschicht sehen? Man sollte sie zweifellos abschaffen. Das Problem aber ist, dass sie die Konstrukteure und Schützer des Systems sind. Ihnen die Sonderrechte aus diesem System, dass sie selber errichtet haben und aufrecht erhalten, zu entziehen, ist nahezu unmöglich. Deswegen sollte man es auch nicht erwägen. Sie ergreifen vielleicht die Initiative, die „Bullen“ abzuschaffen, werden sich aber kaum selbst abschaffen. Mit der Geschwindigkeit und den Erfolgen der politischen Reform in China ist der Zusammenbruch dieser Sonderrechts-Schicht immerhin tendenziell absehbar. Auf kurze Sicht müssen wir sie aber weiter ertragen. Anders gesagt müssen wir eine Tatsache anerkennen: während des Feiertagsverkehrs können wir auch in absehbarer Zukunft nur um Resttickets kämpfen, die die Oberschicht übrig gelassen hat. Das einzige was wir machen können, ist zu beten, dass sie das Flugzeug nehmen, selbst mit dem Auto fahren oder die Ferien im Ausland verbringen und möglichst einen geringeren Teil der Zugtickets rauben. […]

 

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*Der Blogger bezieht sich auf das Differenzprinzip der Rawls’schen Gerechtigkeitslehre. Der Grundgedanke ist, „daß die Gesellschaftsordnung nur dann günstigere Aussichten für Bevorzugte einrichten und sichern darf, wenn das den weniger Begünstigten zum Vorteil gereicht.“ (John Rawls (1971), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 95f.) [A.d.Ãœ.]

 

 

Kategorien: Politik. Permalink.

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